Katzenmond
wenn du mir noch eine Frage beantwortest.«
»Na gut, lass hören!«
»Unter den Menschen, die sich in direkter Nähe des Toten bewegt haben, war da ein mittelgroßer, schlanker mit dunklem Kopffell?«
Lomo ließ seinen Schwanz ins Wasser hängen und begann mit ihm kreisrunde Wellen zu ziehen. Serrano hatte den Eindruck, dass er sich mit dem Nachdenken absichtlich Zeit ließ.
»Er hat blaue Augen«, half Serrano nach, »und einen leicht schwankenden Gang.«
»Dunkelbraunes Fußleder mit ausgefransten Schnürsenkeln?«
»Ja.«
Lomo nickte. »Der kam später als die anderen. Er ist es, der seitdem dauernd hier herumstreunt.«
Serrano starrte durch die Ritzen zwischen den Bohlen auf das matte Wasser. Er hatte es geahnt. Vielmehr, Wu hatte es vermutet. Und nun? Hatte sie auch vorausgesehen, dass diese eine Klarheit ein Dutzend neuer Fragen nach sich zog? Lomo gab ein unauffälliges Schnalzen von sich. »Du wolltest mir noch sagen, warum dich der Nasse nicht interessiert.«
»Du hast recht«, entgegnete Serrano, dankbar für die Ablenkung.
Während er Lomo ins Bild setzte und alle Wege der vergangenen Tage zwangsläufig ein zweites Mal ging, kam es ihm plötzlich vor, als kröchen ihm die Worte wie Spinnen aus dem Maul, die bedächtig, aber unaufhaltsam Fäden über das Viertel zogen. Als er fertig war, sah es aus wie ein unförmiges Netz. Und in seiner Mitte hing – das Katzenhaus. Er schöpfte Luft und blickte dabei in Lomos besorgtes Gesicht.
»Also, um mal Ordnung in dein Streufutter zu bringen: Du vermutest, dass der Schatten, deine Tochter und der feuchte Kadaver ein Ganzes ergeben? Entschuldige, aber das scheint mir doch ein bisschen tief aus dem Fluss gezogen.«
»Was den Kadaver betrifft«, sagte Serrano, behutsam seinen Worten nachschmeckend, »glaube ich, dass er weniger mit dem Schatten zu tun hat als mit dem Tod meiner Tochter. Der Schatten dreht sich um sich selbst.«
Lomo blickte über das Wasser. Von weitem näherte sich ein flaches Boot.
»Wir bekommen gleich Besuch«, sagte er. »Besser, wir machen uns davon.« Er grinste. »Freut mich, dich kennengelernt zu haben. Auch wenn ich finde, dass du schräger bist als ein Dachziegel.«
Serrano erhob sich mit leisem Bedauern. Abgesehen von Rasse und Alter ähnelte Lomo seinem verstorbenen Freund Bismarck. Genauso ungehobelt, nicht weniger verschroben. »Auch ein Dachziegel erfüllt seine Funktion«, sagte er.
Im Hort traf Liebermann nur noch eine Erzieherin, die stumm auf die Uhr wies. Zwei nach fünf. Mit einem plötzlichen Geschmack von Brackwasser im Mund eilte er weiter zu Nico.
Sie ließ seinen Kuss unbewegt über sich ergehen. »Du merkst es vielleicht nicht«, sagte sie, »aber Miri ist auf dem besten Weg, dir zu entgleiten. Und auch Küsse verschleißen irgendwann, wenn man sie dauernd als Joker einsetzt.«
Als wäre sie gerufen worden, erschien Miri in ihrem Rücken. Sie blieb kurz stehen, dann zog sie die Nase hoch und stürzte auf ihren Vater zu. »Weißt du, was Dienstag gerade macht?«
»Er demoliert die Wohnung«, vermutete Liebermann mit belegter Stimme.
»Nein. Er badet.«
Aus dem Kinderzimmer drang ein Schrei. Er klang menschlich.
»Oh, Mist!« Miri verschwand.
Zurück blieben er und Nico, deren Blick ein wenig weichergeworden war. »Entschuldige. Ich hatte vergessen, dass heute dein erster Arbeitstag war.«
»Daran liegt es nicht. Thekla hat mir mal vorgeworfen, mir einen eigenen Kalender einzubilden, mit einer eigenen, auf mich abgestimmten Zeitrechnung.«
Nico gab die Garderobe frei, damit er seine Jacke aufhängen konnte. »Reizvolle Idee. Und wie viele Tage besitzt der Liebermann’sche Kalender?«
»Je nachdem, wie viele wie ich brauche. Mit unterschiedlichen Stundenanzahlen und -längen. Das ist praktisch, was mich betrifft, aber oft unverträglich mit den Kalendern meiner Umgebung. Zum Beispiel hat er mir heute erlaubt, nach der Arbeit noch in der Rechtsmedizin vorbeizuschauen, in der Annahme, es wäre kurz nach vier. Als ich ging, war es immer noch kurz nach vier.«
»Hat es sich wenigstens gelohnt?«
»Ja«, sagte Liebermann, ohne ihren kühlen Unterton zu bemerken. »Ich habe mich als Ladendieb probiert. Bitte!« Er nahm sie in die Arme, und diesmal ließ sie es zu. Sofort umhüllte ihn ihr Duft. Nach einer Weile lehnte er sich zurück und blickte erstaunt auf ihren Oberkörper. »Mir scheint, dass nicht nur Miri größer geworden ist.«
Nico grinste. »Mach dir keine Hoffnungen, ich bekomme nur meine
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