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Katzenmond

Katzenmond

Titel: Katzenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Anlauff
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der Tote am Fluss, auch dort wieder Liebermann und jetzt dieses Zweitauge. Serrano wusste, dass Menschen die durchsichtigen Schalen nicht zum Schmuck im Gesicht trugen, sondern weil sie noch schlechter sahen als ihre Artgenossen. Vor Serrano begann sich langsam ein ungeheuerlicher Entwurf auszurollen, der alles in sich vereinte. Zumindest fast alles. Der Schatten und das Flügelwesensträubten sich hartnäckig, sich einfügen zu lassen. Aber das waren Kleinigkeiten im Vergleich zum Rest.
    »Du kannst das Ding haben«, sagte Wu großzügig.
    Serrano dachte kurz über das Angebot nach. »Nein. Behalte es hier und zeige es dem Fremden, wenn er das nächste Mal auftaucht.«
    »Himmel. Das soll doch nicht etwa heißen, dass er sich uns noch einmal aufdrängt!«
    »Er muss«, sagte Serrano. »Jedenfalls, wenn Estebans Herrin nicht wiederkehrt. Das ist seine Berufung. Sobald er hier ist, schleppt eine von euch ihn zum Zweitauge und dem Platz, wo ihr es gefunden habt. Beobachtet genau, wie er darauf reagiert. Und dann gebt mir Bescheid.«
    »Wie?«
    »Über Trudi, die trächtige Nachbarin, die du unlängst belauscht hast. Sie wird die Nachricht weiterleiten. Es sei denn, du möchtest, dass ich euch von nun an täglich besuche.«
    Wu lächelte. »Lieber fresse ich Aas.«
    Durch die halb offene Terrassentür schoss ein gelbes Fellknäuel. »Im Keller«, keuchte Bella. »In den Schränken mit den Wechselschuhen.«
    Wu gab ihr einen anerkennenden Stüber und wandte sich wieder an Serrano. »Da hast du deine getigerten Schuhe. Es sind Wechselschuhe. Und jetzt lass uns zum Geschäft kommen. Ich habe dir ganze drei Informationen gegeben. Von dir verlange ich nur eine: das derzeitige Quartier des Schattens.«
    Kurz nach acht stolperte Kriminalanwärter Jean-Pierre Simon im Flur der Mordkommission über seinen neuen Chef.
    Liebermann trug eine ausgediente Schultasche, der man die Träger abmontiert hatte, Simon eine Kaffeetasse. Als sie zusammenprallten, schwappte ein Teil des Getränks über Liebermanns Jacke. Der Hauptkommissar blieb gelassen. »Es ist nur Kaffee«,sagte er, als Simon zu einer Entschuldigung anhob. »Zwischen braunen Flecken gibt es enorme Unterschiede, mein Lieber. Ich habe fünfunddreißig Jahre gebraucht, um das zu begreifen.«
    Mit diesen Worten verschwand er in sein Büro, während Simon in Betrachtungen über den Zusammenhang zwischen Augenfarben und Geisteszuständen versank. Danach kehrte er in die Teeküche zurück und füllte eine weitere Tasse.
    Als er sie kurz darauf leise auf Liebermanns Schreibtisch abstellte, saß der Hauptkommissar mit dem Rücken zur Tür, die Füße auf dem Fensterbrett, und las einen Brief. »Was macht Oberkommissar Müller derzeit?«, fragte er, ohne sich umzudrehen.
    Simon richtete den Kaffeelöffel, damit er parallel zur Tasse lag. »Vorhin hat er Sportwetten abgeglichen.«
    Liebermann nahm die Füße vom Fensterbrett und schwenkte zu ihm herum. »Sportwetten?«
    »Sein Morgenritual«, erklärte Simon. »Hauptkommissar Otto hat immer zuerst eine Zigarre in der Teeküche geraucht. Milena Seifert von der Rechtsabteilung sucht ihr Büro nach Spinnen ab. Und ich lese das Tageshoroskop.« Er errötete. »Jeder hat seine Gewohnheiten«, schloss er mit einem flüchtigen Blick auf den Brief in Liebermanns Hand. Es irritierte ihn ein wenig, dass der Kommissar Handschuhe trug.
    Liebermann hob das Papier lächelnd. »Scheint so. Ich lese zum Beispiel Briefe, die nicht für mich bestimmt sind. Und unter uns gesagt, dafür bin ich dankbar.«
    Simon wartete eine Weile. Als nichts mehr kam, sagte er: »Aha. Also, wenn Sie mich brauchen, ich bin nebenan.«
    Bevor Liebermann sich wieder seiner Lektüre zuwandte, verlor er einen Gedanken an den jungen Anwärter. Horoskope. Dann drehte er sich zum Tisch und legte seinen Brief neben einen anderen, der schon aufgefaltet dort lag. Einige Sekunden verharrte er nachdenklich über den beiden. Sie waren an denselbenAdressaten gerichtet, an zwei aufeinanderfolgenden Tagen verfasst worden und ähnelten sich, was die Form anging. Und doch trennten sie Welten.
    Den ersten hatte er schon auf dem Weg hierher gelesen. Er stammte von der Greisin mit dem eingebildeten Magenkrebs und erschöpfte sich in einer Flut wüster Anklagen und Drohungen, von denen die schlimmste eine in Aussicht gestellte Wiederbegegnung zwischen ihr und Kaiser vor dem Jüngsten Gericht war. Allerdings erwähnte die Verfasserin nicht, in welcher Reihenfolge Opfer und Täter dieses

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