Katzenmond
hatte.
»Wir müssen alles überprüfen«, sagte Simon entschuldigend.
Sofort glitt Vivian Kaiser wie von Schnüren gezogen aufwärts und bedeutete ihnen, ihr zu folgen. Vor einer Tür am Ende des Korridors hielt sie. »Das ist sein Arbeitszimmer. Brauchen Sie mich, sonst würde ich lieber …«
»Wir rufen Sie, wenn wir Fragen haben«, sagte Liebermann, eine Brustlänge vor Simon, und legte seine Hand auf die Messingklinke.
Das Erste, was ihm auffiel, waren zwei tote Fliegen auf dem Boden. Sie bildeten einen kläglichen Kontrast zu dem flachen Bildschirm, der aus einer Unzahl leerer Schokoladenpapiere auf Kaisers Schreibtisch ragte.
»Wollten Sie nicht auf die Toilette?«, fragte er Simon.
Der Junge hob die Brauen. »Sollte ich wollen?«
»Ich glaube schon. Und ziehen Sie die hier an, bei Bädern weiß man nie.« Er hielt Simon ein neues Paar Handschuhe hin, die er Dr. Genrich vor dem Aufbruch vom Tatort mit ruhigem Gewissen aus der Tasche entwendet hatte.
Simons Verständnislosigkeit wich einem Grinsen, als er sie sich schnappte. Draußen hörte Liebermann ihn ein paar Worte mit der Witwe wechseln, während vor ihm Kaisers Bildschirm aufflackerte.
Im Posteingang stieß er auf eine Anzahl Mails, die erst nach dem Ableben des Internisten eingetroffen waren. Einladungen, Rechnungen, Werbung verschiedener Pharmaunternehmen. Die ungeöffneten Nachrichten berührten Liebermann seltsam. Er fragte sich, wann ein Mensch letztlich wirklich starb: in dem Moment, in dem sein Herz stehenblieb, wenn das Hirn die letzte Aktivität verbuchte, oder ab dem Zeitpunkt, da einen die Öffentlichkeit nicht mehr wahrnahm. Aus der Küche erscholl ein Schrei, gefolgt von einem »Alles bestens!«.
Nachdenklich klickte Liebermann auf den Ordner mit den gelöschten Mails. Unbeeinflusst durch Tragödien und Medikamente war Vivian Kaisers Stimme sicher angenehm. Mittlere bis tiefe Tonlage, kein Glasschneider. Er begann zu lesen. Als er fertig war, lief er ein paar Runden durch das kleine Zimmer, kehrte dann zum Computer zurück und grub seine Augen durch die Schokoladenpapiere, bis sie schließlich am Rand eines Blattes verharrten, das unter einer »Noisette« hervorlugte. Neugierig zog Liebermann es heraus. Es war ein mit Notizen versehener Fotoausdruck, dessen Motiv nach den letzten Tagen schon beinahe familiär anmutete. Dennoch dauerte es einige Sekunden, ehe Liebermann erkannte, welches Hausboot er da in Händen hielt.
Er fand Vivian Kaiser am Boden, damit beschäftigt, Krepptücher über einer Teelache zu verteilen.
»David hat recht«, seufzte sie. »Ich sollte mich momentan auf eine einzige praktische Tätigkeit beschränken – lange und heiß duschen.«
»Das hat er Ihnen empfohlen?«
»Na ja, man kann dabei wenig kaputtmachen, nicht?«
»Man könnte sich verbrühen«, erwiderte Liebermann und deutete auf die orangefarbene Tomate am Fenster. »Sie haben originelles Gemüse. Mein Begleiter hielt es zuerst für eine Physalis.«
Zum ersten Mal, seit sie hier waren, stahl sich ein Lächeln um ihre Mundwinkel. »Knut hatte immer ein Faible für extravagante Dinge. Die Tomate war ein Geschenk zum Hochzeitstag. Haben Sie das Schild gelesen? Sie heißt wie ich.«
»Und sollte dies hier vielleicht Ihr nächstes Geburtstagsgeschenk werden?« Liebermann reichte ihr das Foto des Hausboots hinunter. Die Witwe betrachtete es und gab es ihm zurück. »Eher eine Art Versöhnungsgeschenk, für … seinen Ausrutscher. Ständig hat er mir ausgemalt, wie romantisch es sein würde, abends im Sonnenuntergang zu schaukeln und Champagner zu trinken.« Sie stand auf und warf den Krepp in den Mülleimer. »Dabei werde ich schon beim bloßen Gedanken an Schiffe seekrank. Was ist mit dem Boot?«
Liebermann sah sie ernst an. »Vor einem seiner Bullaugen wurde Ihr Mann gefunden. Und zwar von dessen Besitzer, einem Lehrer, der mir gegenüber mit keinem Wort einen geplanten Verkauf des Bootes erwähnt hat. Im Gegenteil, er züchtet emsig Tomaten darauf. Tomaten wie diese.« Er zeigte auf die Vivianes .
Die Namensvetterin der Früchte erblasste.
»Hat Ihr Mann den Besitzer des Bootes nie erwähnt?«
Sie riss ein neues Stück Krepp ab und hockte sich wieder auf den Boden, um ein paar vereinzelte Spritzer aufzutupfen.
»Nicht direkt. Irgendwann hat er mal durchblicken lassen, dass die Verhandlungen sich etwas mühsam gestalten. Letztlich schien die Sache aber ihren Gang zu gehen. Jedenfalls hatte Knut schon Kontakt zu einem auf Boote
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