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Katzensprung

Katzensprung

Titel: Katzensprung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christiane Gibiec
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sah sie mit wunden Augen an. Die Ladentür ging
erneut.
    »Ich habe das auch gerade hinter mich gebracht«, sagte er brüchig,
als sie wieder allein waren. »Man denkt, es tötet einen.«
    Trudi spürte, wie von unten Tränen heraufquollen, endlich, der
erlösende Schwall. Ohne es steuern zu können, krallte sie die Hand in Hakans
Ärmel, und er rückte näher.
    »Wenn Sie weinen müssen, dann tun Sie’s«, flüsterte er und legte
seine Hand auf ihre. »Nur raus damit, sonst erstickt man.«
    Die Schleuse war geöffnet, Trudis Tränenströme liefen, und dem
nächsten Kunden bot sich das Bild einer schluchzenden, zerzausten Frau im
Trainingsanzug, die am Hals des Ladenbesitzers hing. Er hatte seine Hände
schützend über ihren schmalen Rücken gelegt.

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    Josef Lepple hielt den aufgespannten Regenschirm
fürsorglich über Olgas Kopf, auf dem pinselartig ein gezackter Pferdeschwanz
wippte. Er strahlte, weil sie ihm auf der Fahrt zum Wichlinghauser Friedhof das
Du angeboten und sich überhaupt milde und zugänglich gezeigt hatte, nicht mit
der sonst üblichen Arroganz.
    Sie standen ein Stück entfernt von der kleinen Gruppe Trauergäste,
die im Nieselregen das Grab säumte, unter ihnen Ramona Wenklers Schwester
Gisela Reiners, der Schulrektor Jens Brinkmann, die Lehrerin Amanda Springer
mit einer schwarzen Schleife im Haar und eine Handvoll Schüler, die rote Rosen
in den Händen hielten.
    Ein Beerdigungsredner leitete routiniert-weihevoll die Zeremonie. Er
hielt eine vorgefertigte, nichtssagende Ansprache, rief »Asche zu Asche, Staub
zu Staub«, als der Sarg in das mit grünem Kunstrasen ausgeschlagene Loch
hinuntergelassen wurde, und schaufelte drei Schippchen Erde hinterher. Gisela
Reiners und Jens Brinkmann warfen schluchzend, alle anderen unbewegt und mit
gesenkten Köpfen ebenfalls Erde und eine Rose ab. Alle, außer Amanda Springer,
die sich ohne Geste und Rose vor dem Grab aufgerichtet und, so schien es Olga,
einen triumphierenden Seitenblick auf den erschütterten Brinkmann geworfen
hatte, der nach ihr an der Reihe war.
    Olga und Lepple lehnten die Einladung zu Kaffee und Brötchen im
Friedhofscafé ab und kündigten an, am nächsten Vormittag noch einmal in die
Schule zu kommen. Es sei Unterricht, wandte Brinkmann ein, er könne doch nicht
alle Lehrer freistellen. Man werde sie nach und nach vernehmen, nicht alle auf
einmal, knurrte Lepple, schließlich sei noch ein Mord aufzuklären.
    »Langsam verschwimmt mir der Fall vor den Augen«, klagte Olga,
als sie mit Stefan Bauer nach der Beerdigung in seinem Büro einen Kaffee trank.
    »Zurzeit habe ich den Eindruck, dass es jeder sein könnte. Heute
habe ich mir die Kollegen des Opfers noch mal angesehen. Bei einer, die Frau
Wenkler wohl etwas besser kannte, keine Spur von Trauer, nur Genugtuung. Der
Schulrektor dagegen war völlig aufgelöst. Da müssen wir auch noch mal tiefer
einsteigen.«
    Den Nachmittag verbrachte sie lustlos mit Protokollen und anderem
Aktenkram.
    Sie schlief zurzeit schlecht, träumte von früheren ungelösten
Fällen, von zahllosen Spuren, die auseinanderdrifteten und sich im Sand
verloren. Außerdem liefen ihr die Zwillinge über die Bettdecke. Max hatte
vorsichtig angeregt, ob sie sie nicht mal kennenlernen wolle. Darauf hatte sie
mit einem Wutanfall reagiert, der ihr gleich darauf leidtat, Max aber offenbar
tief verletzt hatte. Sie wollte ihn anrufen, wusste aber nicht richtig, was sie
ihm sagen sollte. Sie wusste nur, dass sie diese fremden Kinder nicht auf ihren
Knien schaukeln wollte, und wenn es zehnmal seine waren.
    Zur Lagebesprechung am nächsten Morgen erschien der Kollege
Fitzer, der sich gründlich mit Ramona Wenklers Tagebuch beschäftigt und bereits
angedeutet hatte, dass es Auffälligkeiten im Zusammenhang mit der Häufung von
Geldabhebungen des Opfers im Frühjahr 2008 gab. Er verteilte einen Stapel Fotokopien
und trug seine Erkenntnisse vor.
    Die Tagebucheinträge waren unregelmäßig datiert, sodass er die
Zeiträume nicht exakt eingrenzen konnte. Es gab jedoch fünf Seiten, auf denen
Stil und Stimmung der Eintragungen stark abwichen. Auf den Kopien, die er
vorlegte, waren einige Stellen gemarkert.
    Davor gab es, wie Fitzer berichtete, ellenlange Passagen über
Unterleibsschmerzen, Migräneanfälle, Depressionen und Schlaflosigkeit,
Schuldzuweisungen, Beschimpfungen der Eltern und der Schwester, Panikattacken,
viel wirres Geschreibsel. Offenbar war sie vor dem abrupten Umschwung häufig
tagelang im

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