Katzensprung
Bett geblieben und hatte erwogen, sich entweder umzubringen oder in
eine Therapie zu gehen. Mehrfach hatte sie von »den Sachen« gesprochen, die sie
in Reserve habe. Der Kontext ließ darauf schließen, dass damit Tabletten oder
andere Gifte gemeint waren, mit denen sie sich hätte umbringen können.
Dann änderte sich der Ton.
Dass es so was noch gibt. Der ist ja HINREISSEND!!!!! David Bowie in
blutjung, blutig jung, jung blutig, blutend. Wie schön das klingt, so schön wie
er, blutschön, eine Augenweide, meine Augenweide. Er muss tanzen, tanzen,
tanzen, so was von Talent. Grüne Augen mit Braun, der Wahnsinn.
Weißt du, dass du schön bist?
Flammen schlagen an ihm hoch, verlegen wird
er. So was von HINREISSEND!! Ich sprüh’s auf jede Wand!!!
Tanz, tanz, sage ich zu ihm, dazu bist du
geboren. Apoll, David. Stern an meinem Himmel, er ist so gnadenlos gut. Er
macht einen Hip-Hop in unserer Show, es wird grandios, er ist der Star, er wird
alle ausstechen. Wir proben allein nach der regulären Probe, die anderen sind
neidisch, ich muss aufpassen. Er ist so unschuldig, er tanzt nur für mich. Er
muss studieren, auf die Folkwang-Schule, er muss zu Pina Bausch.
In diesem Stil ging es weiter, aber es wurde kein Name genannt.
Mehrere kaum lesbare Seiten waren kreuz und quer und sehr eng beschrieben,
Satzfetzen priesen immer wieder den Jungen, dazwischen Flüche, Angstzustände,
wirres Zeug. Einmal stand lesbar da: Er ist so süß, er will
kein Geld, ich steck es ihm einfach in die Tasche. Fitzer war noch dabei,
diese Hieroglyphen zu transkribieren, und hoffte auf weitere Hinweise. Dann
stoppten die Eintragungen. Die nächste Datierung war von Herbst 2008, als
Ramona gerade ihre Stelle an der Hauptschule Wichlinghausen angetreten hatte.
Von dem Jungen war nicht mehr die Rede.
Heute Brechdurchfall, habe ich mir in der
Schule geholt. Diese neidische Kuh, ich kann sie nicht sehen, die Schüler Asis.
Jens hat zum Glück Verständnis, knuffiger Typ, bisschen spießig, Lehrer halt.
Ich kann ihn um den Finger wickeln.
Wieder kamen einige Einträge mit Frust und Depressionen, die
Schrift wurde fahriger und stürzte von den Linien, Sätze brachen ab.
Es folgte der 8. August 2009, der einzige Tag in dem ganzen Buch,
der genau datiert war. Das Datum war mit einem roten Herzen umrandet und mit
Schnörkeln und Blümchen ausgemalt, die Sätze ausformuliert, die Schrift gut
lesbar. Ramona hatte in »Trudi’s Eck« Emilio kennengelernt, den Knaller, den
Mann mit dem italienischen Akzent, den melancholischen und trotzdem leuchtenden
Augen, der aussah wie Eros Ramazzotti und dreimal so charmant war. Nicht mehr
taufrisch, aber in der Liebe eine Granate.
Bis zum Ferienende holte sie ihn jeden Abend in der Kneipe ab, und
er blieb zu heißen Liebesspielen bei ihr. Dann war abrupt Schluss, was sich
wieder durch Satzfetzen und schlingernde Schrift ausdrückte. Emilio brachte
eine Ehefrau und eine Tochter ins Spiel, die aus den Ferien zurückkamen. Die
Frau sei krank und sehr eifersüchtig und drohe, sich umzubringen. Den Rest der
Eintragungen, sich abwechselnde Arien aus Liebesbezeugungen und frustrierten,
wütenden Abstürzen, kannte Olga.
»Da haben wir doch schon mal Anhaltspunkte«, sagte Kriminaloberrat
Fischbein nach der Lesepause. »Kennen wir die Einrichtung, in der sich das mit
dem Jungen abgespielt hat?«
Fitzer und Kamann hatten schon im Jugendzentrum Gräfrath
recherchiert, in dem das Opfer im Jahr 2008 beschäftigt gewesen war. Man hatte
sich dunkel an diese Honorarkraft erinnert, aber nicht gern, weil sie
großspurig angekündigt hatte, mit den Jugendlichen ein Musical einzustudieren,
es dann aber nur zu ein paar Proben kam und das Projekt platzte. Die
Jugendlichen waren enttäuscht, die Honorarkraft war nie mehr aufgetaucht.
Ebenso dunkel war die Erinnerung an einen scheuen, außergewöhnlichen
Jungen, der sehr gut tanzte und den sie zu ihrem Star aufbaute, das war wohl
auch eine Ursache für das Scheitern des Projekts gewesen. Der Name dieses
Jungen war nicht bekannt, es war keine Liste geführt worden. Die Leitung des
Jugendzentrums hatte in den letzten drei Jahren mehrmals gewechselt, sodass
eine Ermittlung der näheren Umstände dieses Theaterprojekts, insbesondere
deutlicherer Hinweise auf den Jungen, zeitraubend werden könnte, schloss Fitzer
seine Ausführungen.
»Wenn ihr mehr Leute braucht, sagt Bescheid«, sagte Stefan Bauer.
»Hat sich noch mal jemand um das Umfeld des Tatorts gekümmert?«
Kollege
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