Katzensprung
ihn
überhaupt?«
Ulrike Henseler sah Olga nachdenklich an. »Das ist eine gute Frage.
Ich sehe ihn zwar seit dem Frühjahr beinahe täglich, aber was in ihm vorgeht,
weiß ich nicht. Auffallend ist, wie gut er strukturiert ist, pünktlich und
ordentlich. Er nimmt Petar und geht, sagt ja oder nein oder weiß nicht, von
sich aus erzählt er nichts. Er macht diesen Parkour-Sport, er sagt, er sei
Traceur, und er trainiert anscheinend jeden Tag. Er kommt auch am Wochenende,
wenn wir nichts anderes mit den Kindern vorhaben. Er bindet sich Petar auf den
Rücken und läuft mit ihm durch die ganze Stadt. Manchmal fahren sie auch mit
dem Zug oder Bus irgendwohin, der Kleine erzählt immer sehr begeistert davon.
Das ist es, was ich von ihm weiß, und natürlich, dass er ein traumschöner Junge
ist und die tänzerische Begabung von den Eltern geerbt hat. Petar bewegt sich
übrigens auch sehr gut, er ist selig, wenn wir Musik auflegen und er tanzen
kann.«
»Wissen Sie, mit wem Igor Umgang hat?«
»Er hat wohl eine kleine Freundin, Luna. Er hat sie ein-, zweimal
mitgebracht, ein süßes Mädchen, stark in der Pubertät. Sie hat sich jetzt eine
Glatze rasiert.«
»Ah ja, Luna. Das ist in der Tat interessant.« Olga versuchte, sich
ihre Überraschung nicht anmerken zu lassen. »Wie lange nimmt Igor Petar jeden
Tag?«
»In der Regel von vier bis sechs, dann hat sich Petar von der Schule
erholt. Wie das jetzt zum Winter geht, müssen wir noch sehen. Wir können es
Petar nicht nehmen, er fiebert auf den Bruder hin und ist ausgeglichen und
vergnügt, wenn er zurückkommt, und er bekommt viel frische Luft. Wir haben
nicht den Eindruck, dass es ihm schadet, im Gegenteil. Es ist schon
vorgekommen, dass Igor nicht konnte, dann leidet Petar.«
»Haben Sie in der letzten Zeit eine Veränderung bei Igor
festgestellt?«
Ulrike Henseler hob ratlos die Hände. »Er sieht schon eine Weile
nicht gut aus und macht einen erschöpften Eindruck. Ich denke, die Situation
mit der Mutter setzt ihm zu. Aber wie gesagt, ich habe eigentlich nie hinter
seine Fassade blicken können. Nach meinem Eindruck ist er der Typus ›Held‹, zu
dem sich Kinder suchtkranker Eltern oft entwickeln. Das sind Menschen, die
vorgeben, alles im Griff zu haben, sie sind außerordentlich abgedichtet, sehr
kontrolliert und legen sich eine Fassade zu. Ich denke, das ist bei Igor sehr
stark der Fall.«
Olga nickte; sie hatte kürzlich eine Fortbildung zu dem Thema
gemacht. Bei solchen Menschen konnte sehr plötzlich eine Aggression
durchbrechen, die sie zum Täter machte. Sie waren in der Lage, sich eine
perfekte Traumwelt aufzubauen, in die sie sich zurückzogen, ohne dass die
Umwelt es wahrnahm. Eine Störung dieser Welt konnte tatauslösend sein.
»Mein Mann hat ein paarmal versucht, ihn zu einer Tanzausbildung
oder etwas in der Richtung zu bewegen«, fuhr Ulrike fort, »er ist ja
gottbegnadet. Aber er hat das vehement abgelehnt, er hat gesagt, mit dem Tanz
sei er durch, das bringe ihm nichts mehr.«
»Wissen Sie, was jetzt mit der Mutter ist?«
»Sie scheint wieder im Krankenhaus zu sein. Igor hat nur genickt,
als ich ihn danach gefragt habe. Petar fragt übrigens nie nach seiner Mutter.
Warum wollen Sie das eigentlich alles wissen? Hat Igor was angestellt?«
Olga knetete die Finger. »Wir suchen im Rahmen einer Ermittlung nach
einem Jungen, die Beschreibung würde passen. Mehr kann ich dazu noch gar nicht
sagen, vielleicht ist es auch eine falsche Fährte. Wir müssen allen Hinweisen
nachgehen.«
Olga fragte Ulrike Henseler, ob sie ein Foto von Igor habe, was
diese zunächst verneinte, der Junge habe immer abgelehnt, sich fotografieren zu
lassen. Dann fand sie doch ein Foto auf ihrem Laptop, das bei Petars Geburtstag
entstanden war. Der Kleine pustete vorn im Bild seine Geburtstagskerzen aus,
rotznasig und lachend. Er saß auf Igors Schoß, den er halb verdeckte, das
Gesicht war aber einigermaßen zu erkennen.
Olga bat Ulrike Henseler, das Foto zweimal auszudrucken. Die
Pflegemutter zögerte, weil sie befürchtete, Igor zu schaden, aber Olga
überzeugte sie davon, dass es ihn möglicherweise auch entlasten konnte.
»Sie schaden ihm nicht, wenn Sie uns unterstützen«, sagte sie. »Ich
verspreche Ihnen, dass wir ihn fair behandeln.«
Sie rief den Kollegen Fitzer an, damit er das Foto abholte und so
schnell wie möglich dem Betreuer im Gräfrather Jugendzentrum vorlegte, der
glaubte, sich an den tänzerisch begabten jungen Russen zu erinnern. Ulrike
Henseler
Weitere Kostenlose Bücher