Katzensprung
Samstagnachmittag vom Parkplatz an der
Müngstener Brücke in Richtung Brückenpark. Max hatte Samstags- und
Sonntagsdienst und musste dazwischen Nachtschicht bei den Kindern schieben,
weil die Kindsmutter feiern gehen wollte. Olgas Laune war entsprechend, der
Abschied frostig gewesen.
Olga und Tülay liebten den malerischen Weg, der mal hoch an den
schroffen Schieferwänden der Wupperschlucht entlang, mal durch sumpfige oder
lieblich ansteigende Auen führte. Er gab immer neue Blicke auf den rasch
fließenden, von Stromschnellen durchzogenen Fluss frei, der manchmal einen
leichten Geruch nach Waschpulver verströmte und je nach Jahreszeit und
Lichteinfall in tausenderlei Tönen von Schiefergrau bis Silberhell schimmerte
und gleißte. Alle halbe Stunde war ein Summen zu hören, das zu einem mächtigen
Grollen anschwoll, wenn der Zug von Remscheid nach Solingen über die das Tal in
einem Bogen überspannende filigrane Eisenkonstruktion der Müngstener Brücke
rollte.
In den steilen Wupperhängen, die nur noch wenig belaubt waren, hing
Nebel. Es war kalt, sie gingen schnell und wurden von der Buslinie 658
überholt, deren Endstation am Brückenpark war.
An der Haltestelle sprang ein junger Mann heraus, der eine Art
Rucksack trug. Beim Näherkommen sahen sie, dass es ein Kind war, das er sich in
einem Tragetuch auf den Rücken gebunden hatte. Seine Mütze hatte er tief ins
Gesicht gezogen, sodass er nicht zu erkennen war, aber seine Gestalt fiel auf,
groß und breitschultrig bewegte er sich fließend und sicher, die Beine leicht
auswärtsgestellt, ein Tänzer.
Olga und Tülay blieben stehen, als er loslief und nahezu schwerelos
über die Begrenzungspfeiler am Straßenrand flankte. Er lief zur Wupper hinunter
und entfernte sich schnell in Richtung des Restaurants, dessen rostige Wand in
Sicht kam. Der Junge lief federnd und kraftvoll, nahm kleine Hindernisse mit
vorsichtigen Sprüngen, dabei bewegte er sich so achtsam, dass das Kind in dem
Tuch auf seinem Rücken kaum erschüttert, allenfalls sanft geschaukelt wurde. Es
schien, als fange sein Körper alle Stöße ab.
Er verschwand aus ihrem Blickfeld, aber als sie näher kamen, sahen
sie ihn über die Brüstungen und Treppen des Restaurants laufen und verschiedene
Sprünge und Schrittfolgen ausprobieren. Dabei sprach er mit halblauter Stimme,
und es waren schwache Kinderlaute zu hören. Olga und Tülay versuchten, näher
heranzukommen, aber der Junge schien es zu spüren. Er drehte sein Gesicht weg,
dann entfernte er sich und lief über die Grashänge an der Wupper entlang davon.
»Der hatte Bewegungen«, sagte Olga, »so was habe ich ja noch nie
gesehen.«
»Ein Tänzer«, sagte Tülay, »mindestens, wenn nicht Akrobat. Hast du
gesehen, wie ruhig das Kind an ihm hing?«
»Einen Tänzer suche ich. Könnte das nicht David Bowie gewesen sein?
Das war doch Parkour, was der gemacht hat, das war ein Traceur, wie die kleine
Sassi.«
Olga war elektrisiert. Sie hatte sein Gesicht nicht gut sehen
können, glaubte aber, dass er hell war und ebenmäßige Züge hatte.
Sie liefen schnell den Wupperweg entlang durch den Wald und ließen
angespannt die Blicke schweifen, ob der Junge wieder auftauchte. Kurz vor der
Brücke am Wiesengrund war die Sicht frei auf das gegenüberliegende Ufer. Da kam
er ihnen auf der anderen Seite des Flusses entgegen, und sie traten schnell
hinter einen Baum. Der junge Mann blieb stehen und hob das Kind fürsorglich aus
dem Tragetuch, brachte es zum Ufer hinunter, das an dieser Stelle flach war,
zog ihm die Hose herunter und ließ es ins Wasser pinkeln. Das Gesicht des
Kleinen leuchtete, und sie hörten ihn jauchzen.
Tülay starrte angespannt hinüber und stieß Olga in die Seite. »Ich
glaube, der Kleine ist Petar«, flüsterte sie, »der Pflegesohn von Henselers,
ich habe dir doch von ihm erzählt.«
***
Clari, ach, könntest du hier sein. Ich bin
ganz einsam, nur Oma ist da. Mama schreibt zwar fünf SMS am Tag und versucht mindestens
zehnmal, mich anzurufen, aber ich gehe nicht dran, bei Papa auch nicht. Die
können mich mal. Ich habe das Handy jetzt ausgestellt.
Clari, was mache ich nur? Er sagt, er
hätte mich lieb, fast jeden Tag steht er nach der Schule an der Schwebebahn und
bringt mich nach Vohwinkel zu Oma. Wir sitzen eine halbe Stunde auf dem
Lienhardplatz, dann muss er weg, zu Petar. Er sagt, er muss mit ihm trainieren.
Wozu, frage ich, warum kann ich nicht dabei sein? Er braucht die volle
Konzentration, das schafft er nur
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