Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Katzensprung

Katzensprung

Titel: Katzensprung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christiane Gibiec
Vom Netzwerk:
fährt mit den Händen über das
verschossene rosa Duchessetuch, das er ihr morgens um die Schultern legt, er
denkt dabei immer an ein Vogelskelett. Obwohl sie so dürr ist, sind ihre
Handrücken rot und geschwollen, die Finger von Arthrose steif und dick. Sie
tasten über die Stuhllehne und das Tischchen daneben, suchen das Glas, immer
das Glas. Und immer das Gesabbel vom Bolschoi, von den großen Zeiten, vom
kleinen Goscha. Dass es auch noch einen winzigen Petar gibt, hat sie vergessen.
    Das Zeug knallt ihr die Birne weg, die Freiheit, die Verantwortung,
das ganze Leben. Es hat seinen Bruder krank und dumm gemacht.
    Er zählt die Arzneitropfen auf einen Löffel und schiebt ihn in ihren
Mund, stellt ein halb volles Glas Wodka in ihre Reichweite. Sie spült mit einem
Schluck nach und dämmert weg.
    Als er abends von Petar kommt, liegt sie ohne Bewusstsein im Sessel,
die Hände schlagen hin und her, in ihren Mundwinkeln hängt Schaum. Vielleicht
wieder ein epileptischer Anfall, die häufen sich in der letzten Zeit. Am Hals
eine getrocknete Blutspur. Sie bewegt die Augenlider.
    Er sagt der Nachbarin Bescheid, die wie immer den Krankenwagen ruft.
Er packt saubere Wäsche, Toilettenartikel und ihre Zahnbürste, die sie nur noch
benutzt, wenn der Pflegedienst sie dazu zwingt, in eine Tasche. Sie ist
schmutzig, er müsste sie unter die Dusche setzen, aber er kann es nicht mehr
und breitet das Tuch über den Gestank.
    Sie sieht aus wie eine uralte Frau, dabei ist sie gerade vierzig.
    Er will sie nicht ansehen, will in die Konzentration, will laufen.
    An manchen Tagen brandet es heran, da ist er wehrlos.
    An die Stange, mein Goscha, première position , plié , en dehors , equilibre . Und jetzt die arabesque ,
wirst du das Bein richtig anheben? Gestreckt das Knie, nicht so ein krummer
Haken. Grand battement , changement , échappé sauté , und jetzt das soubresaut ,
Goscha, hoch, du musst viel höher springen, ich weiß nicht, was Aleksej
Ibramowitsch zu solchen Beinen sagen wird. Jetzt bist du gerade schön warm für
den Spagat, so … so … und vorbeugen. Und dehnen, dehnen, es tut nicht weh, ein
Bolschoi-Tänzer kennt das Wort Schmerz nicht, hörst du? Und auf die Spitze,
hoch, hoch, oben bleiben, wirst du wohl nicht schlappmachen. Wir legen dir
gleich Fleisch auf die Zehen, Papa holt es frisch vom Metzger, es kühlt und
macht den Schmerz weg. Mein Goscha wird ein Bolschoi-Tänzer wie Mama und Papa,
er wird Mitglied der stolzesten Tanzkompanie der Welt.
    Wenn sie ihn dehnt, hat sie Eisenarme, die zarte Mama mit den runden
Bauernwangen, die zu schmalen Tänzerinnenwangen werden, als sie sich die
Backenzähne ziehen lässt. Sie sieht aus, als wäre sie einem dieser
goldgerahmten Bildchen entsprungen mit ihren grünbraunen Augen, der
sommersprossigen hellen Haut unter der blonden Krause, die sie sich für die
Vorstellungen so straff nach hinten bindet, dass ihre Augen zu Katzenaugen werden.
Nur ein paar Löckchen dürfen herauswinken. Die Mama mit der unaussprechlichen
Grazie, die Mama auf dem ersten Platz der zweiten Reihe im Schwanensee. Papa
hockt mit der Wodkaflasche und mit Goschinka, der aus Kaljasin zu Besuch ist,
in der Seitenbühne und beobachtet die Vorstellungen.
    Sie will mit Macht in die erste Reihe kommen, sie ist aus Stahl und
lässt sich nichts anmerken, als mit Ende zwanzig ihr Meniskus reißt. Das
Bolschoi ist nichts für Schwächlinge. Als es gar nicht mehr geht, feuert man sie
aus dem Ensemble und bietet ihr eine Stelle als Garderobiere an. Aber sie will
nach Deutschland und dort eine Tanzschule eröffnen. Sie können ausreisen, weil
sie Juden sind. In Scharen werden die Deutschen zu der Bolschoi-Tänzerin
kommen.
    Wo bleibt der Krankenwagen? Er tänzelt ungeduldig, zieht sich in
Gedanken schon die Kapuze über und läuft, in Flanken über die Vorgartenmauern,
Sprung über den Altpapiercontainer und abrollen, weiter auf der Betonmauer und
über die Mülleimer, tic tac ticeditac tic tac ticeditac ticediticediticeditac.
Der Flow kommt, es läuft, keine Gedanken, nur der Flow.
    Er hört das Martinshorn, kurz darauf schiebt sich die signalrote
Wand des Krankenwagens vor das Fenster. Es klackert, als sie die Trage
herausholen. Über die dämmerige Straße lecken die blauen Zungen der Blitze.
    Der Akzent machte seine Sprache weich und flüssig, er legte die
Hände abwechselnd unter das Kinn und bewegte den Kopf mit Grazie. Der Anwalt
hatte sich zurückgelehnt, Lepple hackte in den Laptop.
    »Ich bin froh,

Weitere Kostenlose Bücher