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Katzensprung

Katzensprung

Titel: Katzensprung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christiane Gibiec
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dass meine Mutter es geschafft hat.« Igor sah Olga
zum ersten Mal offen in die Augen. »Für sie, aber auch für mich. Ich konnte
nicht mehr für sie mitkämpfen, nicht mehr für uns alle.«
    »Das kann jeder nachvollziehen«, sagte Olga emotionaler, als sie
wollte. »Sie müssen doch eine wahnsinnige Wut gehabt haben, auf die ganze
Situation, auf die Belastung. Sie hatten doch gar keine Jugend.«
    »Ich stelle seit meiner frühesten Kindheit meine eigenen Interessen
hintenan«, sagte Igor und sah wieder stoisch geradeaus. »Ich bin so geboren und
erzogen, ich kenne es nicht anders. Ich tue die Dinge, die getan werden müssen,
egal, was es ist. Ich gehe den Weg des Zen, ich bin Buddhist, und ich bin
Traceur, das entspricht dem, was ich denke.«
    »Können Sie das etwas genauer beschreiben?«
    »Man hat Respekt vor jedem Augenblick, man entwickelt Dankbarkeit
und Toleranz dem Leben und den anderen Menschen gegenüber, egal, wie die
Verhältnisse sind. Man lässt los; alles, was geschieht, ist das Leben, und der
Weg ist das Ziel. Man läuft, man überwindet Hindernisse, man befreit den Raum
und betritt nie gesehene Wege.«
    »Wie sind Sie damit in Berührung gekommen?«
    »Ich habe in Köln Traceure auf der Domplatte gesehen, da dachte ich,
das ist es, das will ich machen. Dann habe ich mir Lehrfilme auf YouTube
angesehen.«
    »Gehen Sie regelmäßig ins Internet? Sie hatten keinen Computer zu
Hause.«
    »Ich bin ins Internetcafé gegangen, aber nicht oft. Ich steh nicht
so drauf.«
    »Sie haben täglich trainiert?«
    Er nickte.
    »Sie haben früher getanzt, wie Ihre Eltern, und dann damit
aufgehört«, sagte Bauer. »Wie lange ist das jetzt her?«
    »Ungefähr drei Jahre.«
    Der Anwalt schnellte nach vorn.
    »Sie waren in der Pubertät, als Sie aufhörten, etwa vierzehn?«
    »Ja.« Igors Lider flatterten.
    »Warum?«, fragte Olga.
    »Dazu wird mein Mandant sich im Folgenden einlassen«, sagte
Schwalbe, »er sollte am besten der Reihe nach erzählen.«
    Mit vierzehn ging Igor in Vohwinkel auf die Realschule, und
seine Klassenlehrerin machte ihn auf ein Tanzprojekt für Jungen im
Jugendzentrum Gräfrath aufmerksam. Zu dieser Zeit ging es seiner Mutter
verhältnismäßig gut, sie bemühte sich, wenig zu trinken, und konnte Petar
einigermaßen versorgen. Igor entschloss sich teilzunehmen. Damals hatte er noch
felsenfest vor, Tänzer zu werden. Sein Traum war die Truppe von Pina Bausch –
eine Frau aus der jüdischen Gemeinde hatte ihn einmal in eine Vorstellung mitgenommen.
Aber er konnte sich auch andere moderne Ensembles vorstellen, die er aus dem
Fernsehen kannte. Alles, nur kein klassisches Ballett.
    So lernte er Ramona Wenkler kennen. Sie wollte in ihrem Projekt
berühmte Popstars durch Jugendliche darstellen lassen, sie sollten Karaoke
singen und kleine Choreografien tanzen. In Igor sah sie sofort
David-Bowie-Potenzial, ein jüngerer Bruder, schwärmte sie, Riesentalent,
Weltkarriere.
    Wow, tolle Frau, dachte der Junge, strahlende Augen, super Energie,
endlich ist es so weit, die bringt dich groß raus, die hat Beziehungen, das
Elend hat ein Ende.
    Es war das erste Mal, dass er sich ein Leben ohne Mamutschkas
Abstürze und ohne Petars Windeln vorstellen konnte, ein Licht am Ende des
Tunnels. Er war beflügelt und bereitete sich vor, indem er sich im Internetcafé
Auftritte des jungen David Bowie ansah und kleine Choreografien entwickelte.
Kurze Zeit lebte er in dem Traum, am Anfang einer großen Karriere zu stehen.
    Ramona schäumte vor Entzücken und zog Igor den anderen vor, sie
wollte, dass er sie duzte, probte nur noch mit ihm und tat vertraut. Es wurde
ihm immer unangenehmer, allein schon, weil ihr Verhalten ihn vor den anderen
Jungen zum Idioten abstempelte. Er roch ihre Fahne und merkte, dass ihre
euphorischen Ausbrüche die Hysterie einer Trinkerin waren. Er kannte das ja
alles von zu Hause. So ging es zwei, drei Proben lang, bis es zum Eklat kam.
    Igor hatte Schweiß auf der Stirn und sprach stockend, die
Erinnerung belastete ihn. Olga fragte, ob er eine Pause brauche, aber er
schüttelte den Kopf und versuchte, zur Ruhe zu kommen.
    Sie segelt in den Probenraum, ihre Schminke ist verschmiert, sie
knallt ihre Tasche auf den Boden und kommt mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu.
Sie hat frisch gekippt, wirft die Haare, wackelt mit den Hüften: Komm, Igor,
wir machen »Heroes«, wir sind das Dream-Team, das wird der Abräumer.
    Sie schiebt die CD ein und stellt die
Anlage überlaut, fasst ihn an den Oberarm

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