Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch

Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch

Titel: Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Ondaatje
Vom Netzwerk:
potentieller Libido (der Ellbogen an Cassius’ Hodensack). Sie war geschmeidig und so weiß wie eine Taube. Sie ging nicht gern in die Sonne. Man sah sie im Liegestuhl innerhalb der Rechtecke tiefen Schattens Krimis lesen, ihr hellblondes Haar wie ein kleiner Funken in der selbstgewählten Düsternis. Sie rauchte. Sie und Mr. Mazappa standen nach dem ersten Gang gleichzeitig auf, entschuldigten sich und nahmen den nächsten Ausgang zum Deck. Worüber sie sich dort unterhielten, wussten wir nicht. Sie passten nicht zusammen, doch Miss Lasqueti hatte ein Lachen, dem man anhörte, dass ihm der Schmutz nicht ganz unbekannt war. Es war überraschend, weil es von einem so zurückhaltenden Wesen und schmächtigen Körper kam; gewöhnlich hörte man es als Reaktion auf eine der schlüpfrigen Anekdoten Mr. Mazappas. Sie konnte wunderliche Dinge äußern. »Warum muss ich an Austern denken, wenn ich die Wendung trompe-l’œil höre?« hörte ich sie einmal sagen.
    Doch die meiste Zeit hatten wir nicht einmal soviel Anhaltspunkte wie das Schwarze unter dem Nagel zu Miss Lasquetis Hintergrund und Lebenslauf. Wir hielten uns etwas darauf zugute, Spuren aufzusaugen, wenn wir jeden Tag das Schiff abgrasten, aber was daraus abzuleiten war, begriffen wir nur nach und nach. Wir hörten einzelne Worte beim Mittagessen oder sahen einen schnell gewechselten Blick oder ein Kopfschütteln. »Spanisch ist eine liebevolle Sprache, finden Sie nicht auch, Mr. Mazappa?« hatte Miss Lasqueti bemerkt, und er hatte ihr über den Tisch hinweg zugezwinkert. Wir begannen die Erwachsenen kennenzulernen, einfach weil wir uns unter ihnen befanden. Wir sahen, wie sich Muster herausbildeten, und eine Zeitlang beruhte alles auf jenem Zwinkern Mr. Mazappas.
    Eine Eigentümlichkeit Miss Lasquetis war ihre Schläfrigkeit. Es fiel ihr schwer, zu bestimmten Tageszeiten wach zu bleiben. Man sah, wie sie gegen den Schlaf ankämpfte. Dieses Bemühen machte sie liebenswert, als wäre sie dauernd damit beschäftigt, eine unverdiente Strafe abzuwehren. Man ging an dem Liegestuhl vorbei, in dem sie saß, und ihr Kopf neigte sich langsam dem Buch entgegen, das sie zu lesen versuchte. In mancher Hinsicht war sie das Gespenst an unserem Tisch, denn es stellte sich auch heraus, dass sie schlafwandelte, was auf einem Schiff eine gefährliche Gepflogenheit ist. Ein weißer Splitter vor dem dunkel wogenden Meer, so sehe ich sie immer vor mir.
    Was waren ihre Zukunftsaussichten? Was für eine Vergangenheit hatte sie? Sie war die einzige am Katzentisch, die imstande war, uns dazu zu bringen, aus uns herauszugehen und uns in das Leben eines anderen einzufühlen. Ich muss einräumen, dass es hauptsächlich Ramadhin war, der Cassius und mir diese Empathie entlockte. Ramadhin war immer der Großherzigste von uns dreien. Doch zum erstenmal in unserem Leben begannen wir zu spüren, dass es im Leben eines anderen ungerecht zugehen konnte. Miss Lasqueti hatte »Gunpowder-Tee«, wie ich mich erinnere, den sie am Tisch in eine Tasse heißes Wasser rührte und in eine Thermoskanne umfüllte, bevor sie sich ihrer Nachmittagsbeschäftigung widmete. Man konnte praktisch zusehen, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg, wenn der Tee sie wachrüttelte.
    Dass ich sie als »weiße Taube« bezeichnet habe, geht vermutlich auf den Einfluss einer späteren Entdeckung über sie zurück: Es stellte sich heraus, dass Miss Lasqueti irgendwo auf dem Schiff zwanzig oder dreißig Tauben in Käfigen mit sich führte. Sie »begleitete« diese Vögel nach England, doch ihre Beweggründe für diese Reisebegleiterfunktion behielt sie für sich. Und dann erfuhr ich von Flavia Prins, ein unbekannter Passagier der ersten Klasse habe ihr mitgeteilt, dass Miss Lasqueti häufig in den Fluren von Whitehall gesehen worden sei.
    Jedenfalls wollte es uns vorkommen, als könnte fast jeder an unserem Tisch – von dem schweigsamen Schneider Mr. Gunesekera, der in Kandy einen Laden besaß, bis zu dem unterhaltsamen Mr. Mazappa und bis zu Miss Lasqueti – einen spannenden Grund für seine Reise haben, selbst wenn er unausgesprochen oder bislang unentdeckt war. Dennoch blieb das Sozialprestige unseres Tischs auf der Oronsay weiterhin äußerst dürftig, während die Gäste am Tisch des Kapitäns ununterbrochen auf ihre Wichtigkeit anstießen. Das war eine kleine Lektion, die ich auf dieser Reise lernte. Was interessant und wichtig ist, ereignet sich in der Regel im verborgenen, an machtfernen Orten. Nichts von bleibendem

Weitere Kostenlose Bücher