Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch
Wert ereignet sich je am Tisch der Mächtigen, wo altvertraute Phrasen Kontinuität garantieren. Diejenigen, die Macht besitzen, bleiben in der vertrauten Fahrrinne, die sie sich ausgebaggert haben.
Das Mädchen
DIEJENIGE PERSON AN BORD DES SCHIFFS , die am wenigsten Macht zu besitzen schien, war das Mädchen Asuntha; erst nach einiger Zeit wurden wir überhaupt auf sie aufmerksam. Sie besaß offenbar nur ein einziges Kleid in verschossenem Grün. Sie trug nie etwas anderes, selbst bei stürmischem Wetter. Sie war taub und wirkte dadurch noch zerbrechlicher und einsamer. Einer aus unserer Tischrunde fragte sich laut, wie sie es fertiggebracht haben mochte, die Passage zu bezahlen. Wir sahen ihr einmal zu, wie sie auf einem Trampolin übte, und als sie in der Luft war, mitten in der Stille um sie herum, hatten wir den Eindruck, als sähen wir einen anderen Menschen. Doch sobald sie ihre Übungen beendet hatte und wegging, war ihr keine Behendigkeit, keine Kraft mehr anzumerken. Sie war blass, selbst für eine Singhalesin. Und schmächtig.
Sie fürchtete sich vor Wasser. Wenn sie am Schwimmbecken vorbeiging, hänselten wir sie, indem wir so taten, als wollten wir sie nass spritzen, bis Cassius es sich anders überlegte und dafür sorgte, dass wir damit aufhörten. Da bemerkten wir, dass er barmherzig sein konnte, und uns fiel auf, dass er sie von dieser Stunde an schüchtern beschützte. Sunil, der Seher von Hyderabad aus der Jankla-Truppe, schien sich um sie zu kümmern. Er saß bei den Mahlzeiten neben ihr, am selben Tisch wie Emily, und ab und zu blickte er zum Katzentisch, entsetzt über den Lärm, den wir dort veranstalteten.
Asuntha hatte eine besondere Art zuzuhören. Sie hörte nur auf dem rechten Ohr, und das auch nur, wenn man ihr klar und deutlich ins Ohr sprach. So konnte sie die Schwingungen in der Luft erfassen und in Töne und dann in Wörter umwandeln. Man konnte nur mit ihr kommunizieren, wenn man ihr ganz nahe kam. Bei Rettungsübungen nahm der Steward sie beiseite und erklärte ihr die Vorschriften und das Vorgehen, während wir anderen die Informationen aus einem Lautsprecher erhielten. Es war, als wären um sie herum lauter Barrieren.
Es war nur Zufall, nichts weiter, dass Emily am selben Tisch saß wie das Mädchen. Und während Emily die strahlende anerkannte Schönheit war, war dieses Mädchen die scheue Schönheit. Allmählich schienen die beiden sich anzufreunden, und wir sahen, wie sie immer vertraulicher miteinander umgingen, flüsterten, Händchen hielten. Emily war ein ganz anderer Mensch, wenn sie mit dem tauben Mädchen zusammen war.
EIN DÜNNER FILM VON MORGENDLICHEM REGEN auf Deck war genau richtig. Zwischen Ausgang B und Ausgang C gab es eine Strecke von zwanzig Metern, auf der keine Liegestühle standen. Wir rasten barfuß darauf zu und rutschten dann den glitschigen Holzboden entlang, bis wir gegen die Reling krachten oder gegen eine Tür, die plötzlich von einem Passagier geöffnet wurde, der das Wetter erkunden wollte. Bei einem rekordverdächtigen Sprint brachte Cassius den betagten Professor Raasagoola Chaudharibhoy zu Fall. Wenn das Deck geschrubbt wurde, konnte man noch weiter schlittern. War die Seifenlauge noch nicht weggewischt, konnten wir die doppelte Strecke schlittern, warfen Eimer um und stießen mit Matrosen zusammen. Sogar Ramadhin machte mit. Er entdeckte gerade, dass er den Seewind, der ihm ins Gesicht blies, über alles liebte. Er konnte stundenlang am Bug stehen, den Blick in die Ferne gerichtet, von irgend etwas dort draußen gebannt oder in seine Gedanken versunken.
Wollte man die täglichen Bewegungen auf unserem Schiff festhalten, bestünde die genaueste Methode darin, eine Reihe Überschneidungen in unterschiedlichen Farben im Zeitraffer darzustellen, um den täglichen Müßiggang abzubilden. Da gab es den Weg, den Mr. Mazappa nahm, nachdem er mittags aufgestanden war, und das Herumschlendern des ayurvedischen Heilkundigen aus Moratuwa, wenn er nicht Dienst bei Sir Hector hatte. Da gab es die zwei Männer, die die Hunde ausführten, Hastie und Invernio; das langsame Schlendern, wenn Flavia Prins und ihre Bridge-Freundinnen sich zum Delilah-Salon und zurück begaben; die Rollschuhrunden der Australierin bei Tagesanbruch; die öffentlichen und heimlichen Aktivitäten der Jankla-Truppe und schließlich uns drei, die wir uns wie ausgelaufenes Quecksilber in alle Richtungen verteilten: wir verweilten kurz am Schwimmbecken, danach an der
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