Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch

Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch

Titel: Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Ondaatje
Vom Netzwerk:
geplant worden – damit wir Port Said tagsüber erreichten und man notfalls auch auf bloße Sicht navigieren konnte. Und so gelangten wir mit weit offenen Augen ins Mittelmeer.

 
     
     
    ALS ICH ENDE ZWANZIG WAR , hatte ich auf einmal das Bedürfnis, Cassius wiederzusehen. Mit Ramadhin und seiner Familie war ich in Kontakt geblieben, aber Cassius hatte ich nicht wiedergesehen, seit unser Schiff in England angelegt hatte.
    Und um diese Zeit, als ich mir wünschte, ihn zu sehen, stieß ich auf eine Ankündigung in einer Londoner Zeitung. Mit einem Foto von ihm. Ich hätte das Gesicht nicht erkannt, wenn sein Name nicht danebengestanden hätte. Älter, dunkler, wahrscheinlich so verschieden von damals wie ich von dem Jungen, der ich an Bord jenes Schiffs in den fünfziger Jahren gewesen war. Es war die Ankündigung einer Ausstellung seiner Bilder. Also ging ich in die City, zu einer Galerie in der Cork Street. Ich ging nicht unbedingt wegen seiner Bilder hin, sondern vor allem, um ihn zu sehen und bei einem ausführlichen Essen mit ihm zu reden und zu reden und zu reden, so hoffte ich. Ich wusste nicht viel von seinem Leben seit den drei Wochen, die wir zusammen verbracht hatten, doch ich wusste, dass er ein ziemlich renommierter Maler geworden war. Das hatte mich überrascht. Aber war er noch so verrückt wie damals, fragte ich mich. Und war er immer noch so gefährlich, wie er mir als Jungen erschienen war? Etwas von Cassius war schließlich in mir haftengeblieben. Ich sah nochmals auf die Ankündigung, die ich aus der Zeitung ausgeschnitten hatte, auf das Foto, auf dem er mit leicht herausfordernder Miene an einer weißen Wand lehnte.
    Aber Cassius war nicht da. Es war ein Samstagnachmittag. Ich kam in die Galerie und erfuhr, dass die Ausstellung schon vor einigen Tagen eröffnet worden war und dass Cassius sich zu diesem Anlass eingefunden hatte. Mit den Gepflogenheiten des Kunstbetriebs war ich nicht vertraut. Ich war enttäuscht, aber dass er nicht da war, machte nichts aus. Denn in den Bildern fand ich Cassius wieder. Es waren große Leinwände, die die drei Räume der Waddington Gallery füllten. Etwa fünfzehn Bilder. Sie hatten alle die Nacht von El Suweis zum Gegenstand. Die schwefelgelben Lichter über dem nächtlichen Tun und Treiben, an die ich mich noch erinnerte oder an diesem Samstagnachmittag wieder erinnerte. Und die offenen Feuerstellen. Das uralte Logbuch, das der Schreiber an dem Tisch in der frischen Nachtluft emsig mit Eintragungen füllte. Ich hatte die Bilder zuerst für abstrakt gehalten. Sie vermittelten den Eindruck, dass sich etwas am Rand oder unmittelbar außerhalb der gemalten Farben ereignete. Doch sobald ich wusste, worum es ging, sah alles ganz anders aus. Ich entdeckte sogar Ramadhins kleinen Hund, der zu dem Boot hochblickte. All das weitete mir das Herz, ohne dass ich es hätte erklären können. Ich denke mir, es verdeutlichte, wie nahe Cassius und ich uns gewesen waren, wie Brüder. Denn auch er hatte die Leute gesehen, die ich in jener Nacht sah, denen wir uns so sonderbar zugehörig gefühlt hatten und die wir nie wiedersehen sollten. Nur dort. In der nächtlichen Stadt einer anderen Welt. Wir hatten darüber nicht gesprochen, aber es war ein Teil von uns geworden. Und jetzt war es hier und in uns.
    Ich ging zu dem Gästebuch, in dem die Besucher ihre Eindrücke vermerken sollten. Einige Bemerkungen waren ziemlich großspurig, übertrieben geistreich, andere besagten nur: »Herrlich!« Eine krakelige Eintragung, die eine ganze Seite füllte, lautete: » KLEINE ALTE DAME LETZTE NACHT SCHWER VERSTÜMMELT .« Das hatte vermutlich ein betrunkener Freund von Cassius geschrieben. Auf dieser Seite hatte sich niemand sonst eingetragen, und der Satz stand ganz allein und auffällig da. Ich blätterte eine Zeitlang weiter und stieß auf Miss Lasquetis Namen, verbunden mit lobenden Worten über Cassius’ Arbeit. Ich notierte das Datum und schrieb dazu: »Der Stamm der Oronsay – unberechenbar und gewalttätig.« Dann fügte ich hinzu: »Schade, dass wir uns nicht gesehen haben. Mynah.« Ich hinterließ keine Adresse.
    Ich ging hinaus, aber irgend etwas hielt mich fest, und ich beschloss, noch einmal durch die Galerie zu gehen; diesmal war ich froh, dass fast niemand da war. Und als ich erkannte, was mich anzog, wanderte ich ein weiteres Mal durch die Galerie, um mich zu vergewissern. Irgendwo habe ich gelesen, lange nachdem die besondere Perspektive von Lartigues frühen Fotos

Weitere Kostenlose Bücher