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Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch

Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch

Titel: Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Ondaatje
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gerühmt worden sei, habe jemand festgestellt, dass sie dem subjektiven Blickwinkel eines kleinen Jungen entsprach, der die Erwachsenen, die er fotografiert, von unten aufnimmt. Und was ich nun in der Galerie sah, war ebenjener Blickwinkel, aus dem Cassius und ich in jener Nacht von der Reling zu den Männern hinuntergeblickt hatten, die in diesen Lichtsegmenten arbeiteten. Ein Winkel von fünfundvierzig Grad, mehr oder weniger. Ich war wieder an der Reling und schaute, und während er diese Bilder malte, war Cassius im Geist ebenfalls dort. Adieu, sagten wir zu all den Männern. Adieu.

Ramadhins Herz
    FAST MEIN GANZES LEBEN LANG wusste ich, dass ich Cassius nichts geben konnte, was ihm etwas nützen würde, aber ich spürte, dass ich Ramadhin etwas hätte geben können. Er wehrte Zuneigung nicht ab. Cassius beharrte unerbittlich auf seiner Privatsphäre. Das sah ich sogar seinen Bildern an, obwohl sie die Nacht in El Suweis heraufbeschworen. Doch ich dachte immer, ich hätte Ramadhin in schwierigen Situationen helfen können. Wenn ich Bescheid gewusst hätte. Wenn er zu mir gekommen wäre und mit mir gesprochen hätte.
    Als ich Anfang der siebziger Jahre eine Zeitlang in Nordamerika arbeitete, erhielt ich eines Tages ein Telegramm von einem entfernten Verwandten. Ich weiß noch, dass es an meinem dreißigsten Geburtstag war. Ich ließ alles liegen, konnte einen Nachtflug nach London buchen, ging dort ins Hotel und schlief ein paar Stunden.
    Am nächsten Mittag nahm ich ein Taxi, das mich in Mill Hill vor einem kleinen Gotteshaus absetzte. Aus dem Augenwinkel sah ich Ramadhins Schwester Massi, und in dem Gotteshaus sah ich sie den Gang entlanggehen. Seit den Tagen unserer Teenagerfreundschaft hatten wir uns nicht oft gesehen. Seit acht Jahren hatte ich weder Ramadhin noch jemand anders aus seiner Familie gesehen. Vermutlich hatten wir uns alle sehr verändert. In einem seiner letzten Briefe hatte Ramadhin mir geschrieben, Massi habe sich einer »ziemlich flotten Clique« angeschlossen, arbeite bei der BBC – für eine Musiksendung – und sei ehrgeizig und ein kluger Kopf. Bei Massi hätte mich wahrscheinlich nichts überrascht. Sie war jünger als wir, war ein Jahr nach uns nach England gekommen und hatte sich schnell eingelebt.
    Im Lauf der Zeit hatte ich ihre Eltern gut kennengelernt, ein liebenswürdiges Ehepaar, das diesen so liebenswürdigen Sohn aufgezogen hatte. Der Vater war Biologe, und jedesmal, wenn er sich genötigt sah, mit mir zu plaudern, weil niemand sonst in der Nähe war, brachte er das Gespräch auf meinen Onkel, den »Richter«. Ich vermute, dass mein Onkel und Ramadhins Vater es etwa ähnlich weit gebracht hatten. Mr. Ramadhin war allerdings von Alltagsangelegenheiten (Schraubenschlüssel, Frühstück, Fahrpläne) schnell überfordert, und seine Frau, ebenfalls Biologin, organisierte den Haushalt und schien es zufrieden, in seinem Schatten zu stehen. Ihr Leben, ihre Laufbahn und ihr Zuhause sollten den Kindern als Leiter dienen, auf der sie weiter emporklimmen konnten. Als Halbwüchsiger wollte ich so oft wie möglich an der ruhigen Ordnung und dem Frieden in ihrem Haus in Mill Hill teilhaben. Ich war dauernd dort. Aufgrund von Ramadhins Krankheit, seinem Herzleiden, waren sie zu einer Familie geworden, die bedächtiger und stiller als meine war. Sie lebten unter einer Glasglocke. Ich fühlte mich bei ihnen wohl.
    Nun war ich in die vertraute Landschaft zurückgekehrt. Und als ich nach dem Trauergottesdienst zum Haus der Ramadhins ging, war mir zumute, als fiele ich zwischen Ästen hinunter, auf denen wir vor Jahren herumgeturnt hatten. Als wir zum Haus gelangten, wirkte es kleiner, und Mrs. Ramadhin sah zerbrechlich aus. Mit den weißen Haarbüscheln wirkte ihr angespanntes Gesicht schöner, auch milder – denn sie war ihren Kindern und mir gegenüber ebenso streng wie großzügig gewesen. Nur Massi vermochte es, sich gegen die Regeln ihrer Mutter aufzulehnen, und das hatte sie lange Zeit getan.
    »Du warst zu lange weg, Michael. Du bist nie da.« Die Worte der Mutter waren ein Pfeil, den sie auf mich abschoss, bevor sie zu mir trat und sich von mir in die Arme schließen ließ. In früheren Zeiten hatten wir einander fast nie berührt. Meine ganze Jugend über hatte ich sie als »Mrs. R.« angesprochen.
    Und so betrat ich abermals ihr Zuhause in der Terracotta Road. Trauergäste bezeigten den Eltern in dem engen Eingangsraum ihr Beileid und gingen von dort zum Wohnzimmer, wo das Sofa und

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