Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch
der Satz von Beistelltischchen und die Bilder am selben Platz waren wie bei meinen Besuchen als Teenager. Es war eine Art Zeitkapsel – der kleine Fernseher, die Porträts von Ramadhins Großeltern vor ihrem Zuhause in Mutwal. Die Vergangenheit, die seine Eltern in dieses Land mitgebracht hatten, würden sie nie vergessen. Doch nun befand sich ein weiteres Bild auf dem Kaminsims, ein Bild von Ramadhin in seiner Doktorrobe bei seiner Promotion an der Universität von Leeds. Das Ornat passte nicht zu ihm und verkleidete ihn nicht. Seine Züge waren hager, als wäre er sehr angespannt.
Ich war ganz nah an das Bild herangetreten und betrachtete es. Jemand ergriff mich am Ellbogen, drückte seine Finger absichtlich fest in mein Fleisch, und ich drehte mich um. Es war Massi, und mit einemmal, fast zu abrupt, war mir zumute, als wären wir einander geradezu erschreckend nahe. Ich hatte sie in der Kirche gesehen, als sie zwischen ihren Eltern zur ersten Reihe gegangen war, wo sie Platz genommen und schnell den Kopf gesenkt hatte. Zu dem Empfangskomitee im Eingangsraum hatte sie nicht gehört.
»Du bist gekommen, Michael. Das hätte ich nicht gedacht.«
»Warum nicht?« Mit ihrer warmen kleinen Hand berührte sie mein Gesicht, und schon war sie fort und unterhielt sich mit anderen Besuchern und nickte oder umarmte Trostbedürftige. Ich achtete nur auf sie. Ich suchte nach irgendeiner Spur von Ähnlichkeit mit Ramadhin. Sie waren immer sehr verschieden gewesen. Er war groß und schwerfällig, während sie drahtig und flink war. Eine »ziemlich flotte Clique«, hatte er geschrieben. Sie hatten die gleiche Haarfarbe, mehr nicht. Aber ich war mir sicher, dass es inzwischen etwas gab, was sie von ihm übernommen hatte, etwas, was er ihr bei seinem plötzlichen Abschied übergeben hatte. Ich glaube, ich brauchte Ramadhins Gegenwart, die ich hier nicht finden konnte.
Es sollte ein langer Nachmittag werden, in dessen Verlauf wir uns nur über das Zimmer hinweg sahen, während wir mit verschiedenen Verwandten sprachen. Während des Stehempfangs sah ich, wie sie in dieser Exilantengemeinschaft in der Rolle einer pflichtbewussten Familienbiene vom einen zum anderen ging, von einer am Boden zerstörten alten Tante zu einem Onkel, der aus reiner Gewohnheit zu fröhlich war, und von ihm zu einem Neffen, der nicht verstehen konnte, dass alle so gelassen waren, denn er hatte Ramadhin geliebt, der ihm Nachhilfe in Mathematik gegeben und ihm in jeder Krise gut zugeredet hatte. Ich sah sie mit diesem Jungen auf einem Liegestuhl im Garten sitzen, und ich wäre lieber bei ihnen gewesen als dem neugierigen Blick der Freunde ihrer Eltern ausgesetzt. Vielleicht weil der Junge zehn Jahre alt war. Und ich hätte gern gewusst, was sie zu ihm sagte, wie sie ihm zu erklären verstand, was sie sagte, und warum wir uns wie eine stille Sekte betrugen, die sich nur im Flüsterton unterhielt. Bis ich sah, dass nicht der Junge weinte, sondern Massi.
Ich ließ meinen Gesprächspartner mitten im Satz stehen und ging hinaus und setzte mich zu ihr und legte den Arm um ihren bebenden Körper, der nicht zu zittern aufhörte, und keiner von uns dreien sagte ein Wort. Und als ich später durch die Glastür in das Haus sah, begriff ich, dass alle Erwachsenen drinnen waren und wir im Garten die Kinder waren.
Es wurde Abend und es wurde dunkel, und Ramadhins schlichtes Zuhause, das einst eine Zuflucht für mich gewesen war, erschien mir wie eine zerbrechliche Arche Noah. Die letzten Besucher gingen langsam auf die unbeleuchtete Vorortstraße hinaus. Ich stand bei der Familie im Eingangsraum, im Begriff, mich ebenfalls zu verabschieden, um den Zug nach London nicht zu verpassen.
»Ich fliege morgen nachmittag«, sagte ich. »Aber wenn alles gutgeht, komme ich nächsten Monat wieder.«
Massi beobachtete mich aufmerksam. Das hatten wir beide den ganzen Nachmittag über getan, als dächten wir beide erneut über jemanden nach, den wir früher einmal gut gekannt hatten. Ihr Gesicht war offener, und sie war anders als früher. Ich sah, mit welch neuer und gewissenhafter Höflichkeit sie ihren Eltern begegnete – sie, die ihre ganze Jugendzeit hindurch heftig mit ihnen gestritten hatte. Diese Veränderungen waren mir ebenso bewusst, wie mir klar war, dass sie mich besser kannte als jeder meiner neuen Freunde. Sie hätte ein Bild von mir aus unserer Vergangenheit zutage fördern und an dem messen können, was sie nun sah. Sie war in den Schulferien das Anhängsel
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