Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch

Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch

Titel: Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Ondaatje
Vom Netzwerk:
irgendeinem Grund hatte man ihn in seiner Zelle gelassen. Nun, als wir im Roten Meer nach Norden fuhren, sahen wir, dass er mit einer zusätzlichen Kette gefesselt worden war, die den Eisenkragen um seinen Hals mit einem in etwa zwölf Metern Entfernung an Deck verankerten Bügel verband. Wir sahen ihn auf und ab schlurfen. Vorher hatte er sich wie ein gelenkiger Mann bewegt, doch nun wirkte er unentschlossen und vorsichtig. Vielleicht spürte er die andere Welt draußen, denn die nächtlichen Ufer der Wüste waren zu beiden Seiten des Schiffes erkennbar – Arabien zur Rechten und Ägypten zur Linken.
    Emily hatte mir zugeflüstert, der Gefangene heiße Niemeyer oder so ähnlich. Der Name klang zu europäisch, denn der Mann war zweifellos Asiate. Er sah aus wie eine Mischung aus einem Singhalesen und etwas anderem. Wir hörten, wie er mit einem der Wärter sprach. Er sprach mit tiefer, ruhiger Stimme, und er sprach bedächtig. Ramadhin fand, es sei eine Stimme, die einen hypnotisieren könnte, wenn man mit dem Mann allein in einem Zimmer wäre. Mein Freund malte sich alle möglichen Gefahren aus. Doch auch Emily erwähnte die ausdrucksvolle Stimme. Jemand hatte zu ihr gesagt, sie klinge »überzeugend«, aber gleichzeitig »furchteinflößend«. Als ich sie fragte, wer ihr das gesagt habe, wurde sie schweigsam. Das überraschte mich. Ich dachte, unser Verhältnis sei eng genug, dass sie mir vertrauen konnte. Und dann sagte sie: »Es ist das Geheimnis von jemand anders. Nicht meines. Ich darf es dir nicht weitersagen, verstehst du?«
    Jedenfalls weckte Niemeyers Rückkehr an Deck in uns den Eindruck, eine gewisse Ordnung sei wieder eingekehrt. Und wir machten es uns erneut in einem der Rettungsboote bequem, um zu ihm hinunterspähen zu können. Wir lauschten auf das Klirren der höllischen Ketten auf dem Deck. Am Ende seiner Kette blieb er stehen und sah in die Dunkelheit hinaus, als könnte er deutlich erkennen, was dort war, als wäre ein Mensch meilenweit entfernt in der finsteren Wüste, der jede seiner Bewegungen beobachtete. Dann machte er kehrt und ging denselben Weg zurück. Irgendwann wurde ihm der Eisenkragen abgenommen. Wir hörten, wie er mit den Wärtern ruhig einige Worte wechselte, und er wurde wieder unter Deck geführt, an einen Ort, den wir uns nur vorstellen konnten.

 
     
     
    »KRANKENTRÄGER, KRANKENTRÄGER – bitte sofort zum Badmintonplatz auf Deck A.« Wir liefen schleunigst hin. Es war eine der spannenderen Verlautbarungen, die wir bisher aus den Lautsprechern zu hören bekommen hatten. Meistens annoncierten sie nachmittägliche Vorträge im Clyde Room über »Die Verlegung der Unterseekabel zwischen Aden und Bombay« oder kündigten an, ein gewisser Mr. Black werde über »Die kürzlich erfolgte Rekonstruktion von Mozarts Klavier« sprechen. Vor der Aufführung der Vier Federn hatte ein Geistlicher einen Vortrag mit dem Titel »Die Kreuzzüge, Pro und Kontra: Ist England zu weit gegangen?« gehalten. Ramadhin und Mr. Fonseka hatten diesen Vortrag besucht und erzählten uns hinterher, der Redner sei offenbar der Ansicht gewesen, die Engländer seien nicht weit genug gegangen.

 
     
     
    EIN NEUES GERÜCHT sickerte bis zu uns durch, dass der Leichnam Hector de Silvas, der nun schon mehrere Tage lang aufgebahrt war, bald auf See bestattet werden solle. Der Kapitän wolle warten, bis wir das Mittelmeer erreichten, doch die allmächtige Witwe de Silvas bestehe inzwischen auf einer baldigen Bestattung im kleinen Kreis. Und innerhalb einer Stunde wusste jedermann über Ort und Zeitpunkt der Zeremonie Bescheid. Stewards trennten den Teil des Hecks, wo die Zeremonie stattfinden sollte, mit Seilen ab, doch schon bald versammelten sich Gaffer hinter der Absperrung, verstopften die Eisentreppen und schauten von den höhergelegenen Decks hinunter. Vereinzelte weniger leicht zu beeindruckende Zeitgenossen betrachteten das Geschehen durch die Fenster des Rauchsalons. Infolgedessen musste der Leichnam – für die meisten von uns war es das erstemal, dass wir Hector de Silva zu sehen bekamen – durch einen sehr engen Gang getragen werden, den die Schaulustigen widerstrebend freigaben. Dem Leichnam folgten die Witwe, die Tochter, die drei Ärzte (einer davon in vollem dörflichen Ornat) und der Kapitän.
    Ich hatte noch nie eine Beerdigung miterlebt, geschweige denn eine, für die ich teilweise verantwortlich war. Ich sah Emily in wenigen Metern Entfernung und wurde von ihr mit einem vorsichtigen

Weitere Kostenlose Bücher