Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch
mich an dem teilhaben zu lassen versuchte, was er voller Begeisterung lernte. Wie er keine Mühen gescheut hatte, mich in England ausfindig zu machen und später mit mir befreundet zu bleiben, als er und ich verschiedene Schulen besuchten. Es war nicht schwer, mich unter den Exilanten aufzuspüren, aber nur er hatte es getan.
Ich weiß nicht, wie lange ich vor dem Fenster saß, das zwischen mir und der Straße war, mir gegenüber Massi, die kein Wort sprach, sondern mir nur die Hand mit offener Handfläche entgegengestreckt hielt, die Hand, die ich nicht gesehen und daher nicht ergriffen hatte. Tränen weiten uns das Herz, heißt es, sie verengen es nicht. Ich hatte lange gebraucht. Ich konnte Massi nicht ansehen. Ich blickte durch den Schleier der Restaurantbeleuchtung in die Dunkelheit.
»Komm. Komm mit«, sagte sie, und wir gingen die Steintreppe des Bahnhofs hinauf, um auf den Zug zu warten. Uns blieben noch einige Minuten, und wir gingen den langen Bahnsteig auf und ab, zu seinen unbeleuchteten Enden und zurück, ohne ein Wort zu wechseln. Wenn der Zug kam, würde es eine Umarmung geben, einen Kuss des Wiedererkennens und der Trauer, und das würde die Trennung zwischen uns für die nächsten Jahre aufheben. Wir hörten das Knistern der Lautsprecheransage, und dann sahen wir ein Licht, das auf uns herabschien.
MANCHE EREIGNISSSE enthüllen ihren schädlichen Einfluss erst im Lauf eines ganzen Lebens. Heute weiß ich, dass ich Massi geheiratet habe, um einer Gemeinschaft aus meiner Kindheit nahe zu bleiben, in der ich mich behütet gefühlt hatte und in die ich mich zurückwünschte, wie mir klar wurde.
Massi und ich sahen uns weiterhin, zuerst schüchtern und dann zum Teil in dem Wunsch, die keimende Liebesbeziehung weiterzuführen, die wir als Teenager nicht verwirklicht hatten. Wir trauerten gemeinsam um Ramadhin. Und die Familie bot Trost. Massis Eltern hießen mich in ihrem Zuhause willkommen, den Jungen – für sie immer noch ein Junge –, der jahrelang der beste Freund ihres Sohns gewesen war. So kam es, dass ich oft Mill Hill aufsuchte und mich in dem Haus aufhielt, in das ich mich als Teenager geflüchtet hatte, in dem ich mit Ramadhin und seiner Schwester gefaulenzt hatte, während ihre Eltern in der Arbeit waren – im Wohnzimmer mit dem Fernsehapparat oder in dem Zimmer im oberen Stockwerk mit dem grünen Laub vor dem Fenster. Es ist ein Haus, in dem ich mich heute noch mit verbundenen Augen bewegen könnte, die Arme ausgestreckt, um im Eingangsraum nicht an die Wand zu stoßen, mit der richtigen Anzahl Schritte in das Zimmer, das zum Garten führt, dann wieder drei Schritte nach rechts, auf der Hut vor dem niedrigen Tisch, und wenn ich dann die Binde abnähme, würde ich, wie ich wusste, vor dem Foto Ramadhins auf seiner Promotionsfeier stehen.
Mit der Leere in meinem Inneren konnte ich bei niemand anders und an keinem anderen Ort Zuflucht suchen.
Einen Monat nach Ramadhins Tod erhielt seine Familie einen Kondolenzbrief von Mr. Fonseka, den ich lesen durfte, denn er schrieb über unsere Zeit auf der Oronsay . Er schrieb ein paar freundliche Worte über mich (und nichts über Cassius) und schrieb von der »strahlenden wissenschaftlichen Neugier«, die er in Ramadhin erkannt hatte. Er schrieb darüber, wie sie sich über die Geschichte der verschiedenen Länder ausgetauscht hatten, an denen wir vorbeigefahren waren, und über natürliche Häfen im Gegensatz zu künstlich angelegten; über Aden als eine der dreizehn großen Städte vorislamischer Zeit; über die Tradition berühmter muslimischer Geographen, die dort vor der Epoche der Schießpulver-Imperien gelebt hatten. Und so ging es immer weiter in Fonsekas Brief, in einem Stil, der mir beinahe zwanzig Jahre später noch immer vertraut war.
Fonsekas Leidenschaft für das Wissen war zusätzlich mit dem Vergnügen gepaart, es mit anderen zu teilen. Diese Beziehung hatte Ramadhin vermutlich auch zu dem zehnjährigen Neffen unterhalten, dem er Nachhilfeunterricht gab und den ich bei der Trauerfeierlichkeit kennengelernt hatte. Mr. Fonseka wusste sicherlich nicht, dass ich noch Kontakt zu Ramadhins Familie hatte, und ich hätte ihm wahrscheinlich zusammen mit Massi einen Überraschungsbesuch in Sheffield abstatten können. Aber ich tat es nicht. Massi und ich waren an den meisten Wochenenden zu beschäftigt. Wir waren jetzt ein Paar, verlobt und im Begriff zu heiraten, unter Berücksichtigung aller Förmlichkeiten, auf die Familien
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