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Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch

Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch

Titel: Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Ondaatje
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glücklicher verlaufen. Er besaß keinen beruflichen Ehrgeiz wie Massi oder – wie sie vermutete – ich. Er war der Gemächlichere von uns, der Besonnenere, der in seinem eigenen Tempo lernte, was wichtig für ihn war. Ich sagte zu Massi, es verwundere mich noch immer, dass er es fertiggebracht hatte, Cassius und mich auf der Reise nach England zu ertragen. Sie nickte, nun mit einem Lächeln, und fragte mich: »Hast du ihn gesehen? Ich lese immer wieder etwas über ihn.«
    »Weißt du noch, dass wir dir einmal vorgeschlagen haben, Kontakt zu ihm aufzunehmen?«
    Wir mussten beide lachen. Ramadhin und ich hatten irgendwann Massi einzureden versucht, Cassius wäre der ideale Heiratskandidat für sie.
    »Vielleicht sollte ich es tun … vielleicht ist es noch nicht zu spät.« Sie kickte im Gehen das nasse Laub mit der Fußspitze vor sich her und hatte sich bei mir untergehakt. Ich dachte an meinen anderen abwesenden Freund. Zum letztenmal hatte ich von Cassius gehört, als ich einer Schauspielerin aus Sri Lanka begegnete, die ihn in England gekannt hatte, als beide Teenager waren. Sie hatte mir erzählt, wie er sich eines sehr frühen Morgens mit ihr auf einem Golfplatz verabredet hatte. Er kam mit ein paar alten Schlägern und Golfbällen, und sie kletterten über das Tor und spazierten auf dem Golfplatz herum, wobei Cassius einen Joint rauchte und über Nietzsches Größe schwadronierte, bevor er sie auf dem Rasen zu verführen versuchte.
    Am Bahnhof vergewisserten wir uns, wann der Zug fuhr; dann gingen wir in das Nachtcafé unter der Eisenbahnbrücke und saßen dort, wechselten kaum ein Wort, sondern sahen einander über den Resopaltisch hinweg an.
    Ich hatte Massi nie als Ramadhins Schwester eingeordnet. Beide wirkten viel zu eigenständig. Massi hatte einen flinken Verstand. Wenn man etwas ansprach, nahm sie es sofort auf, wie die nächste Zeile eines Songs. Sie war, was in früheren Zeiten »blitzgescheit« genannt worden wäre. So hätten Mr. Mazappa oder Miss Lasqueti sie bezeichnet. Aber an diesem Abend in der fast leeren Bahnhofscafeteria war sie in sich gekehrt und unsicher. Ein älteres Paar war da, das an der Trauerfeier und dem Empfang teilgenommen hatte, aber sie sprachen uns nicht an. Ich brauchte Ramadhins Gegenwart bei uns. So war ich es gewohnt. Vielleicht ermöglichte die Ruhe, die von Massi ausging, seine Gegenwart, vielleicht war es die neue Zuneigung zwischen uns, die auf einmal die Jahre auslöschte – jedenfalls war er mir plötzlich ganz nahe, und ich begann zu weinen. Alles an ihm war auf einmal in mir lebendig geworden: sein langsamer Gang, seine Verlegenheit bei fragwürdigen Scherzen, seine Liebe zu dem Hund in Aden, sein Wunsch, ihn bei sich zu haben, die Behutsamkeit, mit der er auf sein Herz achtete – »Ramadhins Herz« –, die Knoten, die er geknüpft hatte, auf die er so stolz gewesen war und die uns das Leben gerettet hatten, seine Körperhaltung, wenn er sich entfernte. Und die unaufdringliche Intelligenz, die Mr. Fonseka erkannt hatte und die weder Cassius noch ich je bemerkt oder anerkannt hatten und die doch immer vorhanden gewesen war. Wieviel von Ramadhin mochte ich aufgenommen haben, nur durch Erinnerungen, nachdem wir einander nicht mehr sahen?
    Ich bin ein Mensch mit kaltem Herzen. Wenn ich mit einem großen Kummer zu tun habe, errichte ich Barrieren, damit das Gefühl des Verlusts nicht zu tief, nicht zu weit eindringen kann. Sofort gibt es eine Mauer, die uneinnehmbar ist. Proust hat geschrieben: »Wir denken, wir liebten unsere Toten nicht mehr, doch (…) unversehens erblicken wir einen alten Handschuh und brechen in Tränen aus.« Ich weiß nicht, was es ausgelöst hat. Es gab keinen Handschuh. Er war seit sechs Tagen tot. Wenn ich ehrlich sein wollte, musste ich zugeben, dass ich seit längerem nicht mehr an Ramadhin als an jemanden gedacht hatte, der mir einmal nahegestanden hatte. Menschen im Alter zwischen zwanzig und dreißig Jahren sind damit beschäftigt, ein anderer zu werden.
    Hatte ich Schuldgefühle, dass ich ihn nicht genug geliebt hatte? Zum Teil. Aber es war kein bestimmter Gedanke, der die Mauer niedergerissen und Ramadhin Zugang zu meinem Herzen verschafft hatte. Ich hatte offenbar begonnen, mich all der kleinen Aspekte von ihm zu entsinnen, die seine Anteilnahme an mir verrieten, sie mir wieder vor Augen zu führen. Eine Geste, um mir zu bedeuten, dass ich etwas auf mein Hemd verschüttete, das letztemal, als ich ihn gesehen hatte. Die Art, wie er

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