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Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch

Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch

Titel: Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Ondaatje
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eingesperrt wurde. Damals war er nur ein Dieb gewesen, jemand, der seinem Gewerbe am Rand der Legalität nachging. Von einem jungen, selbstbewussten Unruhestifter hatte er sich weiterentwickelt.
    Er war teilweise asiatischer Herkunft, was sonst noch, wusste er selber nicht. Der Name Niemeyer konnte ebensogut geerbt wie gestohlen oder erfunden sein. Als er ins Gefängnis gebracht wurde, ließ er Frau und Kind mit kaum einer Rupie zurück. Die Frau verlor den Verstand, und das Kind merkte schnell, dass auf die Mutter kein Verlass mehr war. Sie brütete vor sich hin, schweigend und nicht ansprechbar, oder erging sich in tobsüchtigen Hasstiraden gegen Gott und die Welt, sogar gegen die kleine Tochter. Nachbarn versuchten mit Lebensmitteln auszuhelfen, doch sie gebärdete sich ihnen allen gegenüber wie eine Furie. Sie begann sich Verletzungen beizubringen. Da war das Mädchen höchstens zehn Jahre alt.
    Sie fand jemanden, der sie zum Gefängnis in Kalutara mitnahm. Sie durfte ihren Vater sehen. Sie sprachen miteinander, und er sagte ihr den Namen seiner Schwester, die in der südlichen Provinz lebte. Sie hieß Pacipia. Mehr konnte der Vater offenbar nicht für seine Tochter tun. Nur diesen Namen nennen. Damals war Niemeyer etwa sechsunddreißig Jahre alt. Seine Tochter sah ihn, wie er in der Gefängniszelle kauerte, noch immer geschmeidig, doch seine natürlichen Bewegungen wirkten gedämpft. Durch die Gitterstäbe konnte er sie nicht umarmen. Als Dieb hätte er sich mit Öl eingeschmiert, um durch solche Stäbe hindurchzuschlüpfen. Dennoch kam er ihr machtvoll vor, wie er sich in wirkungsvollem Schweigen vor und zurück bewegte und den gleichen Eindruck weckte wie seine ruhige Stimme, die den Raum zu durchqueren und wie ein Flüstern in einen einzudringen schien.
    Die Rückreise war beschwerlicher. Unterwegs, als Asuntha die dreißig Meilen von Kalutara zurückwanderte, fiel ihr plötzlich ein, dass sie Geburtstag hatte. Sie war elf Jahre alt. Ihre Mutter war nicht zu Hause und nirgends im Dorf zu finden. Sie hatte eine Kleinigkeit zurückgelassen, ein Geschenk, in ein Blatt eingewickelt, ein teilweise mit Perlen besetztes Armband mit braunem Lederriemen. Das Mädchen hatte zugesehen, wie seine Mutter in den letzten Wochen, in denen sie schon halb wahnsinnig war, die Perlen aufgenäht hatte. Sie band das Armband um ihr linkes Handgelenk. Als das Armband zu eng wurde, trug Asuntha es im Haar.
    Jede Nacht war das Mädchen in der Hütte allein und wartete darauf, dass die Mutter zurückkam; sie machte selten Licht, denn es war nur noch wenig Öl in der Lampe. Wenn es dunkel wurde, schlief Asuntha ein, und später erwachte sie in der Dunkelheit und hatte bis Sonnenaufgang nichts zu tun. Sie lag auf ihrer Pritsche und zeichnete in Gedanken eine Karte von der Gegend und überlegte, wo sie am nächsten Tag nach ihrer Mutter suchen sollte. Sie konnte überall sein, sich in einem verlassenen Dorf oder an einem Fluss versteckt halten, wo die Zweige der Bäume tief über dem schnellfließenden Wasser hingen. Es war denkbar, dass ihre Mutter in ihrer Verzweiflung eine Uferböschung hinuntergefallen oder bei dem halbherzigen Versuch, die Lagune zu überqueren, ertrunken war. Das Mädchen fürchtete sich vor Wasser in jeder Form; im Wasser sah man die Dunkelheit unter der Oberfläche, die ans Licht zu gelangen versuchte.
    Vogelrufe weckten sie, und sie verließ die Hütte, um nach ihrer Mutter zu suchen. Nachbarn boten an, sie aufzunehmen, doch nachts kehrte sie immer in die Hütte zurück. Sie hatte beschlossen, noch zwei Wochen lang zu suchen. Dann blieb sie eine weitere Woche. Zuletzt schrieb sie eine Botschaft auf eine Schreibtafel, die sie über der Pritsche ihrer Mutter an die Wand hängte, und verließ ihr einziges Zuhause.
    Sie ging landeinwärts, in südliche Richtung, und ernährte sich von Früchten und Gemüse, die sie unterwegs auflas. Aber sie sehnte sich nach Fleisch. Ein paarmal bettelte sie um Essen und bekam Dhal. Sie erzählte den Leuten nichts von ihrer Geschichte, sondern sagte nur, dass sie seit einer Woche unterwegs sei. Sie kam an Mönchen mit ausgestreckten Bettelschalen vorbei, und sie kam an Kokosplantagen vorbei, wo Männer den Wächtern am Eingang per Fahrrad ihr Mittagessen brachten. Sie blieb bei den Wächtern stehen und sprach mit ihnen, um das Essen zu riechen, das sie ungeniert vor ihren Augen verzehrten. In einem Dorf folgte sie einem Straßenköter durch Hintergassen zu den Überresten einer

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