Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch
die auf den ersten Blick wie gelähmt wirken und in denen Zorn schwelt; ihre Eltern und die Freunde ihrer Eltern hatte das erschreckt. Doch Akrobaten müssen ihrer Truppe vertrauen können.
Der Zirkus spielte auf jedem Streifen Landstraße, an dem es Bäume gab. Dörfler brachten Matten mit und setzten sich am späten Nachmittag auf den Asphalt, wenn es nicht mehr zu heiß war, aber bevor die Schatten die Sicht auf die Darbietungen beeinträchtigten. Dann ertönte eine Fanfare, fast wie aus den Tiefen des Waldes und zugleich und unwirklicher von den hohen Ästen des Baums, in dem der Trompeter saß. Und ein Mann, der in Flammen zu stehen schien und dessen Gesicht so geschminkt war, dass er wie ein Vogel aussah, ließ sich an einem Seil herunter, knapp über den Köpfen der Zuschauer, hinterließ eine Rauchspur und ergriff ein anderes Seil und hangelte sich immer weiter die Straße entlang, auf der die Zuschauer saßen. Harfenklänge und Pfiffe ertönten, bis der geschminkte Mann in einem Baum verschwand und nicht wieder gesehen wurde.
Dann tauchte die übrige Truppe auf, in verschmutzten und zerlumpten Kostümen, und die nächste Stunde über sprangen sie von Bäumen ins Leere und wurden von anderen aufgefangen, die aus noch größerer Höhe zu fallen schienen. Ein mehlbestäubter Mann fiel auf das große Trampolin und erhob sich aus dem Staub, den er hinterließ. Männer balancierten mit bis zum Rand gefüllten Wassereimern in der Hand auf Seilen, die von Baum zu Baum gespannt waren, strauchelten mitten in der Luft und hielten sich nur noch mit einem Arm fest und leerten den Eimer auf die Zuschauer aus. Manchmal Wasser, manchmal Ameisen. Jedesmal wenn einer von ihnen das Seil betrat, kündigte der Trommler das gefährliche und schwierige Kunststück an, und die Trompete kreischte und lachte mit dem Publikum. Zu guter Letzt ließen die Seiltänzer sich zu Boden fallen. Sie rollten sich zusammen, wenn ihr Körper den Asphalt berührte, und richteten sich wieder auf. Sie standen als einzige da, bis die Zuschauer sich erhoben. Die Vorstellung war zu Ende, nur ein einziger Akrobat hing noch immer an einem Fuß von einem Seil und rief um Hilfe.
Zunächst ließ Asuntha sich nur von Pacipia auffangen. Doch das hatte nichts mit Vertrauen zu tun. Sie glaubte bloß, wenn ihre Verwandte sie nicht im Flug auffing, könnte sie genausogut ihr Leben bei dem Sturz verlieren. Die größere Bewährungsprobe kam in dem Augenblick, als Pacipia zur Seite trat, während Asuntha sich an einem hohen Ast festhielt, und ihr befahl, sich jemand anders entgegenzuwerfen. Asuntha wusste, dass ihre Angst sich steigern würde, wenn sie abwartete und überlegte, und sie bezwang die Angst auf der Stelle. Sie handelte so schnell, dass der Fänger kaum Zeit hatte, den Arm auszustrecken.
Und so legte Asuntha sich den Panzer an, der auf sie gewartet hatte. Sie war nun Mitglied des siebenköpfigen Zirkus, der die Provinzen an der Südküste bereiste; sie wohnte in einem der vier Zelte, und Pacipia, die den ehebrecherischen Musikern mit Argwohn begegnete, warnte und ermahnte sie die ganze Zeit. Eines Tages sah sie mitten während der Vorstellung, als sie in den Bäumen war, ihren Vater unter den spärlichen Zuschauern, und sie schwang sich mit einer Hand zu ihm hinunter und umarmte ihn und wich für den Rest der Vorstellung nicht von seiner Seite. Er blieb ein paar Tage. Allerdings war er so nervös, da er nichts zu tun hatte, dass es Asuntha und Pacipia nicht geheuer war. Er merkte schnell, dass seine Tochter so sicher untergebracht war, wie er es sich nur wünschen konnte. In diesem Zirkus konnte sie ihr eigenes Leben leben, im Gegensatz zu einem Leben mit ihm.
Sie war gar nicht auf den Gedanken gekommen, dass sie mit ihm fortgehen könnte. Und von da an war es bei den verschiedenen Begegnungen von Vater und Tochter so, als wäre sie die Erwachsene und sähe zu, wie er sich immer tiefer in das Verbrechen verstrickte. Einmal besuchte er sie, völlig von Drogen benebelt, und Asuntha ignorierte ihn und beobachtete ihn dabei, wie er sich mit dem Akrobaten Sunil anfreundete, demjenigen, der wie ein Vogel geschminkt war, beobachtete ihn dabei, wie er mit dem jungen Mann lachte und ihn mit seiner Stimme zu bezaubern versuchte.
Während der drei Jahre, in denen sie ihn selten sah, gingen im ganzen Land Geschichten über Niemeyer um – er war ein populärer Verbrecher geworden, ja, man liebte ihn fast. In seinem Umkreis gab es eine Bande, darunter
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