Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch
wir einen Tag lang eine Neueinschätzung von ihm vor. Warum hatte er zum Beispiel zwei Namen benötigt? Und wir fragten uns wieder einmal, ob er Kinder hatte. (Jemand an unserem Tisch erwähnte das »Gespräch über das Stillen«.) Und ich fragte mich nun, ob diese Kinder die gleichen Scherze und Ratschläge zu hören bekommen hatten wie wir. Es wurde erwogen, dass er möglicherweise zu denen gehörte, die nur fröhlich sein konnten, wenn sie frei waren, zwischen diesem und jenem Stück Festland. »Oder er war schon mehrmals verheiratet«, schlug Miss Lasqueti leise vor, »und wenn er stirbt, wird es mehrere Witwen geben.« Wir schwiegen lange nach ihrer Bemerkung und fragten uns, ob er auch ihr einen Antrag gemacht hatte.
Ich hatte erwartet, dass sie nach Mr. Mazappas Abschied am Boden zerstört wäre und mit steinerner Miene bei Tisch sitzen würde. Doch im weiteren Verlauf der Reise entpuppte sich Miss Lasqueti als die rätselhafteste und überraschendste Person unter unseren Reisebegleitern. Ihre Bemerkungen waren von hintergründigem Humor, und sie kam zu uns und tröstete uns über den Verlust Mr. Mazappas und sagte, er fehle ihr auch. Das Wort »auch« war für uns Gold wert. Sie wusste, wie wichtig es für uns war, dass die mythischen Geschichten über unseren abwesenden Freund weitergesponnen wurden, und eines Nachmittags erzählte sie uns – wobei sie seine Stimme nachahmte –, wie seine erste Ehe in Betrug und Verrat geendet hatte. Er war unerwartet nach Hause gekommen und hatte seine Frau mit einem Musiker vorgefunden, und zu Miss Lasqueti hatte er gesagt: »Hätte ich eine Waffe gehabt, hätte ich ihn ins Herz geschossen, aber im Zimmer war nur seine Ukulele.« Sie lachte über die Anekdote, wir lachten nicht.
»Seine sizilianische Art hat mir so gut gefallen«, fuhr sie fort, »sogar die Art, wie er mir die Zigarette anzündete, mit einer ausladenden Armbewegung, als wollte er eine Zündschnur anzünden. Manche haben ihn für rücksichtslos gehalten, aber er war ein empfindsamer Mensch. Das Prahlerische hat sich auf seine Wortwahl und auf den Rhythmus seiner Sprache beschränkt. Ich kenne mich mit Masken und Verstellung aus. Ich bin darauf spezialisiert. Er war sanftmütiger, als er wirkte.« Solche Worte aus ihrem Mund ließen uns wieder vermuten, dass es zwischen den beiden eine Liebesgeschichte gegeben hatte. Zweifellos waren sie Seelenverwandte, bedachte man die Art, wie sie über ihn sprach, trotz oder vielleicht gerade wegen der Worte über seine »mehreren Witwen«. Vielleicht würden sie weiterhin durch den Telegraphendienst des Schiffs miteinander in Kontakt bleiben, und ich nahm mir vor, Mr. Tolroy danach zu fragen. Außerdem war es von Port Said nach London nicht so furchtbar weit.
Und dann war von Mr. Mazappa nicht mehr die Rede. Auch sie sprach nicht mehr von ihm. Sie sonderte sich ab. Nachmittags sah ich sie meist im Schatten auf Deck B in einem Liegestuhl. Sie hatte immer eine Ausgabe des Zauberbergs bei sich, doch nie sah man sie darin lesen. Miss Lasqueti verschlang hauptsächlich Krimis, die sie regelmäßig zu enttäuschen schienen. Ich vermute, dass das Leben ihr unberechenbarer vorkam als die Handlung irgendeines Buchs. Zweimal habe ich erlebt, dass sie sich so über einen Krimi ärgerte, dass sie sich aus dem Schatten ihres Liegestuhls halb aufrichtete und das Taschenbuch über die Reling ins Meer warf.
SUNIL, DEN SEHER VON HYDERABAD , der zur Jankla-Truppe gehörte, sah man inzwischen oft mit Emily zusammen. Ich nehme an, dass der erwachsenere Teil seiner Persönlichkeit meine Cousine erst faszinierte und dann in Versuchung führte. Sunil konnte ich immer schon von weitem erkennen, an seiner dünnen Gestalt und an seinem akrobatischen Gang. Ich beobachtete sie und sah, wie seine Hand an ihrem Arm hochglitt und in ihrem Ärmel verschwand und sie so festhielt, als könnte er über sie verfügen, während er die ganze Zeit von der Komplexität einer Welt sprach, die sie sich wohl ersehnte.
Doch um die Zeit, als unser Schiff in Port Said anlegte, schienen sie sich nicht besonders gut zu vertragen. Er redete im Gehen auf sie ein, gestikulierte mit seinem mageren, kräftigen Arm, um sie von irgend etwas zu überzeugen, und wenn er merkte, dass er auf kein Interesse stieß, versuchte er sie halbherzig zum Lachen zu bringen. Ein elfjähriger Junge kann wie ein kundiger Hund die Gesten der Menschen um sich herum deuten, kann die Machtverhältnisse in einer Beziehung
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