Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch
Treppensteigen, und man blickt sogar in das Treppenhaus hinunter, dorthin, woher sie kommt. Es gibt also Brahms und Bilder von Schiffen, die nagelneu aus der Werft schlingern in dem Präludium zum Traum eines Händlers, in dem alles möglich ist, Reichtum am Ende oder ein katastrophaler Sturm. Einer meiner Vorfahren besaß sieben Schiffe, die zwischen Indien und Taprobane verbrannt sind. Wände voller Karten besaß er nicht, aber wie er konnten auch diese Reeder keine Voraussagen für die Zukunft treffen. Unter den Bildern an den Wänden der ersten Stockwerke sind keine Porträts. Doch wenn man dann den vierten Stock der Villa Doria in Genua erreicht, stößt man auf eine Versammlung von Madonnen.
Am Katzentisch wurde über italienische Kunst debattiert. Miss Lasqueti, die einige Jahre in Italien gelebt hatte, sprach. »Das Merkwürdige an den Madonnen ist dieser besondere Gesichtsausdruck, den sie haben, weil sie wissen, dass er als junger Mann sterben wird … trotz aller Engel, die das Jesuskind umflattern mit ihren blutroten Flämmchen auf dem Kopf. Das Wissen, das die Madonna besitzt, zeigt ihr die fertige Karte, das Ende seines Lebens. Es macht gar nichts, dass das Bauernmädchen, das dem Künstler Modell sitzt, diesen wissenden Blick nicht haben kann. Vielleicht kann der Maler ihn auch gar nicht malen. Es sind nur wir, die Betrachter, die dieses Gesicht als eines deuten können, das die Zukunft kennt. Denn was mit ihrem Sohn geschehen wird, wird die Geschichte liefern. Der Betrachter ist es, der dieses Leid erkennt.«
Ich erinnere mich – nicht nur an dieses Gespräch während einer Mahlzeit auf einem Schiff, sondern auch an meine Abende als Teenager in Mill Hill. Massi und Ramadhin und ich haben schnell ein Currygericht bei ihnen zu Hause gegessen und rennen los, um den Zug in die Stadt um fünf nach sieben zu erwischen. Wir haben von einem Jazzklub gehört. Wir sind sechzehn und siebzehn Jahre alt. Und das ist dieser Blick, der wie in weite Ferne auf ihren Sohn mit seinem gefährdeten Herzen gerichtete Blick, den ich im Gesicht von Ramadhins Mutter hätte sehen können.
LETZTE NACHT MEIN ERSTER TRAUM VON MASSI . Es ist Jahre her, dass wir uns getrennt haben. Ich befand mich zwischen Häusern irgendwo in den Alpen, die Wohnräume lagen über den Ställen im Erdgeschoss. Ich habe Massi seit geraumer Zeit nicht im Traum gesehen, vom Leben ganz zu schweigen.
Ich war in einem Versteck, als sie aus dem Haus trat. Ihr Haar war kurz und dunkel, so dass sie anders aussah als zu der Zeit unseres Zusammenlebens. Es machte ihr Gesicht klarer, mit interessanten neuen Aspekten. Sie sah gesund aus. Ich wusste, dass ich mich sofort wieder in sie verlieben könnte, während ich mich nicht wieder in die Massi hätte verlieben können, die sie früher gewesen war, von einer gemeinsamen Geschichte und dem vertrauten Aussehen geprägt.
Ein Mann kam aus dem Haus, half ihr auf einen Tisch, und ich sah, dass sie sich im Frühstadium einer Schwangerschaft befand. Sie hörten etwas und kamen auf mich zu. Ich sprang über eine Hecke, fiel auf die Knie, rannte dann eine Straße entlang, an der Händler, Schmiede und Zimmerleute bei der Arbeit waren. Der Lärm ihrer Werkzeuge klang wie Waffengetöse. Es wurde zu Musik, und auf einmal merkte ich, dass ich gar nicht rannte, sondern dass es Massi war, die zwischen den gefährlichen Rhythmen der Ambosse und der Sägeblätter entlangrannte. Ich war körperlos, nicht mehr anwesend, nicht mehr Teil ihrer Existenz. Und sie, seit kurzem schwanger, rannte wie um ihr Leben, um der Gefahr zu entkommen. Massi mit ihren kurzen dunklen Haaren, die entschlossen war, etwas zu erreichen, was noch außerhalb ihrer Reichweite war.
Schon früh im Leben habe ich gelernt oder beigebracht bekommen, Nähe zu anderen Menschen mühelos aufzugeben. Als Massi und ich uns trennten, habe ich mich nicht gewehrt, mochte es noch so weh tun. Wir gingen fast zu nonchalant auseinander. Und so kam es, dass ich mich, lange nach dem Ende unserer Beziehung und doch noch immer in ihren Strudeln und Wirbeln gefangen, dabei ertappte, wie ich nach einer Erklärung oder Entschuldigung dafür suchte. Ich reduzierte unsere Geschichte auf das, was ich für die eigentliche Wahrheit hielt. Doch natürlich war es nur eine Teilwahrheit. Massi sagte, ich hätte manchmal, wenn mir alles zuviel wurde, einen Trick oder eine Eigenart: Ich verwandelte mich in etwas, was nirgendwohin gehörte. Ich glaubte nichts, was
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