Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch
Jahreszeiten, bis ich zuletzt feststellen musste, dass ich über keinen der Wege bestimmte, die ich freiwillig gewählt zu haben geglaubt hatte. Von den Falltüren und Wassergräben der Reichen hatte ich nichts gewusst. Ich hatte nicht gemerkt, dass ein Mann wie Horace sogar die Menschen, die er liebte, und die Menschen, die er um sich sehen wollte, nicht anders behandelte, als er seine Feinde behandelt haben dürfte, indem er ihnen einen Platz zuwies, an dem es keine Möglichkeit zur Vergeltung gab.
Wenn man in Siena an der Ecke der Via del Moro und der Via Sallustio Bandini nach oben blickt, kann man Dantes Zeilen aus dem Purgatorio lesen:
»Der«, sprach er, »ist Salvani Provenzan;
Und er ist hier, weil ihm daran gelegen,
Dass ihm ganz Siena werde untertan.«
Und am Anfang der Via Vallerozzi, wo sie sich mit der Via Montanini kreuzt, entdeckt man, in den gelben Stein gehauen:
Sapia hieß ich und war doch nicht weise!
Der Schaden, den sich andre zugezogen,
Ward mehr als eigenes Glück mir Grund zum Preise.
In den großen Machtzentren geht es in der Konkurrenz weniger um das Gewinnen als vielmehr darum, den Gegner daran zu hindern, das zu erlangen, was er sich am meisten wünscht.
Einmal wurde zu Weihnachten ein Kostümfest für die Angestellten veranstaltet, und bei diesem Fest merkte ich plötzlich, dass er mich in dem halbleeren Innenhof umschlich. Ich war als Marcel Proust verkleidet, hatte meine blonden Haare versteckt und mir einen schmalen Schnurrbart angeklebt und trug ein Cape. Hat das sein Interesse geweckt? Bot es ihm eine Art Verkleidung für seine Absichten?
Er fragte mich, ob er mir etwas holen könne. »Nein, nichts«, erwiderte ich.
»Wollen Sie durch die Großstädte Europas tanzen?«
Ich lachte. »Ich habe mein eigenes mit Kork ausgekleidetes kleines Zimmer«, sagte ich. »Und das sollte genügen.«
»Verstehe. Dann lassen Sie sich von mir malen. So wie Sie jetzt sind. Sind Sie schon einmal gemalt worden?«
Ich verneinte.
»Sie könnten Ihren grünen Schal tragen.«
Und so begann es; verkleidet als Mann trat ich in sein Bewusstsein. Und ich will Ihnen nicht verschweigen, dass sein Porträt von mir möglicherweise noch immer in einem der unterirdischen Gewölbe der Villa existiert. Auf diesem vermutlich immer noch unvollendeten Porträt bin ich angekleidet, aber es ist nach dem Koitus entstanden. Doch ich sehe sittsam aus, wie eine linkische kleine Erbin aus der Provinz oder die unschuldige Tochter eines Freundes der Familie.
Natürlich war er die Gestalt oben am Fenster gewesen, die mir morgens dabei zugesehen hatte, wie ich zur Arbeit geradelt kam. Er hatte sich Zeit gelassen, mich auszukundschaften. Und nun ging er weiter im Zeitlupentempo vor. Während der Porträtsitzungen führte er unaufhörlich Gespräche: es ging um Farben, um die Choreographie eines Freskos, die Eigenschaften von Alabaster. Und um den Anfang dieser Affäre hinauszuzögern, trug ich die ersten Male meinen Proust-Schnurrbart, so dass er mich bei der Begrüßung im Atelier mitsamt meinem Schnurrbart umarmen und küssen musste. Ich trug ihn einige Tage lang, wenn ich mit ihm zusammen war, vergaß den Bart, wenn wir uns unterhielten und ich ihm Geschichten aus meiner Jugend erzählte. All diese Informationen übereignete ich wie im Traum seiner großen Wissbegier.
Er war klug und umsichtig. Er freundete sich mit mir an. Er war älter als ich, und die Fertigkeiten eines Älteren sind anders, vielleicht vermeintlich anmutiger. Und ich hatte nie einen jüngeren Liebhaber gehabt, mit dem ich ihn hätte vergleichen können – in Wahrheit überhaupt noch keinen. Alles geschah in einem Rhythmus von Ebbe und Flut, es ging ebenso um Konversation wie um körperliches Entblößen. Zunächst entfernte er den grünen Schal von meinem Hals, wenn ich das Atelier betrat, und dann, an einem glühendheißen Augustnachmittag, wollte er weitergehen. Einen kleinen Schritt. Vielleicht lag es an der Magie, die seine Worte ausübten, daran, wie er mich bildete. Ich fand heraus, wie ich meinen nackten Rücken eng an ihn schmiegen, über das hinausgehen musste, was zuerst nur Schmerz zu sein schien, bis auch das Bestandteil unseres Verlangens wurde.
Ich weiß natürlich, dass so etwas häufig vorkommt. Doch für mich war es damals ein überwältigendes neues Land, wahnwitzig, schockierend, voller Geschmackserlebnisse, denen ich mich nicht verweigern durfte. Danach ging ich in dem luxuriösen Atelier umher, und
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