Kauft Leute
geschaffen worden war, eine Skulptur aus Fett und Muskeln, die niemanden unbeeindruckt lassen konnte. Die Männer flüsterten einander Tiernamen zu, die ihnen unwillkürlich einfielen: Bär, Walross, Hengst, Stier … – Ivos multiple Tierhaftigkeit versetzte sie in Aufregung.
Der gepflegt wirkende ältere Herr, der am Gang noch zur Mäßigung aufgerufen hatte, verlangte nun, Ivo solle sich ganz entkleiden. Ein anderer forderte Ivo zum Armdrücken heraus und ein Dritter wollte, dass Ivo seine Zähne zeigte. Bernd spürte, dass seine Knie nachgaben. Er brauchte frische Luft und wollte nach seiner Familie sehen. Dennoch fiel es ihm schwer zu gehen, denn er ahnte, dass hier noch einiges geschehen würde.
4
C AROLIN N OVARA, DIE NEUE T EXTERIN und Produktgestalterin von HÜMANIA Wien, war am frühen Nachmittag mit dem Shuttle-Bus gekommen, der von der Wiener Staatsoper im Halbstundentakt zum HÜMANIA-Gelände fuhr. Sie war über den Parkplatz geschlendert und hatte angesichts des sternförmigen Gebäudes dieselbe Art von Ehrfurcht verspürt wie Angela ein paar Stunden vor ihr. »Cool, hier arbeite ich!«, hatte sie gedacht. Sie war die Rolltreppen hochgefahren und hatte den Gastro-Ring bestaunt. Sie war versucht gewesen, irgendeinen Snack zu sich zu nehmen, der aus heißem, tropfenden Fett gezogen wird, hatte sich dann aber, da sie ja an der Verringerung ihres Gesamtvolumens arbeitete, für einen Sushi-Teller entschieden. Sie hatte überlegt, ob sie nach einem Mitarbeiterrabatt fragen sollte, sich aber nicht getraut. Sie war mit festen Schritten und den besten Vorsätzen, aber innerlich zutiefst verzagt, durch den Korridor zu HAUS 1 marschiert, in der Hoffnung, alles hier zu mögen und eine tiefe innere Motivation für ihre Arbeit zu finden, die sich bisher noch nicht so richtig eingestellt hatte. Sie hatte vorgehabt, sich zu identifizieren – in einem gesunden, nicht übertriebenen Maße. Als Werbetexterin hatte sie es mit vielen Kunden zu tun gehabt, an deren Produkte sie nicht geglaubt hatte, oder die ihr einfach unsympathisch waren, aber sie hatte es immer geschafft, sich in deren Zielgruppe zu versetzen und eine Sprache zu finden, die dieser entsprach. Dieses Mindestmaß an Empathie musste sie auch für ihren neuen Arbeitgeber aufzubringen imstande sein. Als Caro allerdings HAUS 1 betreten hatte, an den Fenstern mit den Männern vorbeigekommen und schließlich vor der blau leuchtenden Box eines gewissen Ivo, der eben sein Fenster betreten hatte und müde, ernst und feindselig aussah, zum Stehen gekommen war, wurde ihr schlagartig klar, dass sie alles hier hasste und es ein monumentaler Fehler war, sich überhaupt beworben zu haben. Mehr noch als die Tatsache, dass hier – man durfte es nicht sagen, aber denken durfte sie es wenigstens – Menschen verkauft wurden, erschreckte sie die Vorstellung, dass manche nicht verkauft wurden, dass sie umsonst auf jemanden warteten, der sie mit nachhause nehmen würde. Sie wusste, das war kindisch und passte allzu gut zu ihrem neuen Ich, dass sich von ihrem früheren vor allem dadurch unterschied, dass es verschreckt und gefühlsduselig war, aber so fühlte sie eben, und da ihre Gefühle größer und dominanter zu werden pflegten, sobald sie sie ignorierte, musste Caro sie eben zulassen. Es war legal, was hier passierte, es war offensichtlich wirtschaftlich vernünftig, es half vielleicht sogar dem einen oder anderen, aber es war dennoch falsch, falsch, falsch. Und sie sollte diese Sache mit ihrer Arbeit noch unterstützen. Undenkbar. Sie brauchte eine Zigarette.
Sie fuhr mit der Rolltreppe zum Parkplatz hinunter, wo sie sich auf eine Bank setzte. Nach zwei Zügen an ihrer Zigarette schob sich jemand zwischen sie und die Sonne, und Caro hob verärgert ihren Blick. Quintus Danesita stand vor ihr und lächelte sie munter an.
»Fräulein Novara, Sie sollten doch erst nächste Woche beginnen?«
Caro wünschte, sie könnte um diese Unterhaltung herumkommen, aber sie wusste nicht wie, also antwortete sie: »Ich war einfach neugierig.«
Danesita übersah den vollen Parkplatz und die nicht nachlassenden Ströme an Besuchern. »Da sind Sie nicht die Einzige. Es läuft alles gut bisher, zu gut beinahe …«
Während Caros neuer Chef das Gelände inspizierte, betrachtete Caro ihn näher und wurde einiger interessanter Änderungen gewahr: Seine Haare waren kurz und modisch geschnitten, er trug einen neuen hellgrauen Maßanzug und ein Paar elegante Lederschuhe, sein Bauch hatte an
Weitere Kostenlose Bücher