Kautschuk
du? Der Arzt gibt keine Hoffnung? Wie schrecklich! Dann komm’ ich natürlich –! Nur weiß ich nicht, wann der nächste Zug fährt. Ich packe sofort. Morgen bin ich schon in Basel!«
Bei den letzten Worten war Wittebold auf die Treppe zugegangen und warf durch die Geländersprossen einen schrägen Blick nach unten. Die gute Frau Körner hörte das Gespräch zwar auch mit an, hatte aber, um nicht neugierig zu scheinen, der Französin den Rücken zugekehrt und wischte mit dem Staublappen den Wandsockel ab. So konnte sie auch nicht sehen, was Wittebold sah: daß nämlich Fräulein Adrienne beim Telefonieren eine bemerkenswert malerische Stellung einnahm. In lässiger Haltung ließ sie den rechten Arm auf der Gabel des Apparates ruhen, so daß überhaupt keine Verbindung mit dem Amt zustande gekommen sein konnte.
Ganz gute Schauspielerin, dieses Fräulein Adrienne! dachte er. Aber wohl noch nicht lange genug auf der Bühne. Sonst würde ihr der kleine Kunstfehler mit der Telefongabel nicht unterlaufen sein. Sie hätte besser getan, zur nächsten Poststelle zu gehen und ein Telegramm an sich aufzugeben; dann schnell nach Haus, den Telegrafenboten abgefangen, vom Formular die Aufgabestelle abgerissen ... Na, jedenfalls: die Dame bereitete ihren Abgang vor. Deubel noch eins! Jetzt hieß es aber sich sputen!
Wittebold fuhr sofort zur Bahn, um sich bei der Auskunft zu erkundigen, wie die Züge nach Basel gingen. Sechzehn Uhr drei Minuten fuhr der nächste.
Wieder in Langenau, begab sich Wittebold auf schnellstem Wege ins Werk zu Direktor Düsterloh. Der nahm mit merklichem Aufatmen die Listen entgegen. Doch ehe er Zeit gefunden hatte, etwas zu sagen, war Wittebold schon wieder draußen und eilte zur nächsten Telefonzelle. Von dort rief er Düsterlohs Telefonnummer an. Frau Körner meldete sich.
»Ist vielleicht Fräulein Adrienne L’Estoile zu sprechen?« fragte er mit verstellter Stimme.
»Nein – die Dame ist fort. Sie will nach Basel zu ihrer ...«
Hier hängte Wittebold ab, während Frau Körner noch lange dem tauben Telefon die Gründe auseinandersetzte, weshalb das Fräulein so plötzlich abreisen mußte.
Dann rief er Dr. Wolff an. Dieser saß in seinem Büro und hatte gerade einen Fall vor, der nach langem Bemühen jetzt endlich Erfolg versprach. Ein englischer Korrespondent in der Abteilung CB 16 war nicht der junge Kaufmann Friedrich Windeys aus Hannover, sondern – hier fehlte noch ein kleines Stückchen, bevor Wolff zur Entlarvung schreiten wollte – wahrscheinlich ein Chemiker aus Edinburgh.
Das Schrillen des Telefons riß ihn aus seinem Grübeln. Er warf einen Blick auf die Uhr. Sechs. Wer wollte da noch was? »Hier Wolff ... Was? Wie? ... Eichenblatt? Was soll das heißen? ... Wer sind Sie? Der Mann, der die beiden Briefe mit einem Eichenblatt unterzeichnete?« Der Bleistift in Wolffs Hand zerbrach, ohne daß er’s merkte. »Wichtige Sache für mich?«
Nicht ohne Mühe zwang er seine Stimme zu ruhigem Sprechen. Mit fiebriger Hand schrieb er nieder, was die Stimme am anderen Ende der Leitung sagte, sprach, als der andere geendet hatte, hastig seinen Dank und stürmte hinaus. Auf der Straße sprang er in das nächste Auto und fuhr zu Kampendonk.
Als er in dessen Zimmer geführt wurde, ließ er Kampendonk gar nicht erst zu Worte kommen, sondern sprudelte los: »Verzeihung, Herr Generaldirektor, für meine Hast! Aber ich habe da eben einen telefonischen Anruf bekommen – vom Schreiber der Eichenblattbriefe ... Hören Sie, bitte!« Er entfaltete seinen Zettel, las: »Eine junge Dame, namens Adrienne L’Estoile, hat eine Woche lang in Hannover bei Direktor Düsterloh gewohnt. Ich habe die Dame in dringendem Verdacht, während dieser Zeit in der Abwesenheit des Herrn Direktors die Kundenlisten und Absatzaufstellungen kopiert zu haben. Die Dame hat heute nachmittag Hannover verlassen und ist mit dem Zug sechzehn Uhr drei Minuten nach Basel abgefahren. Falls sie keine Komplicen hat, müssen die Kopien sich in ihrem Gepäck befinden.«
»Unglaublich! Unerhört! Ist denn Düsterloh ganz von Gott verlassen?« brach Kampendonk los. »Das wird ja immer toller! Natürlich sofort zugreifen! Auf jede Gefahr hin! Es ist auf alle Fälle gut, wenn wir erst feststellen, daß die Dame sich tatsächlich im Hause Düsterlohs aufgehalten hat. Wann ist sie gefahren? Sechzehn Uhr drei Minuten?« Der Generaldirektor zog die Uhr. »Hm! dann dürfte sie jetzt in der Nähe von Kassel sein ... Wohin wollen Sie sich
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