Kautschuk
vor.
Als er geendet, herrschte minutenlange Stille in dem Raum. Von jenem ersten Brief des Agenten war nur im engsten Kreis des Direktoriums gesprochen worden. Wie war es möglich, daß man bei der United Chemical von diesem Brief Kenntnis erhielt? Jeder der Anwesenden sah geradeaus. Keiner wagte, den Nachbar anzusehen – in der Furcht, der Blick könnte als eine Beschuldigung, als ein Vorwurf aufgefaßt werden. Ein lähmendes Gefühl der Unsicherheit lag über allen.
Kampendonk ergriff wieder das Wort. »Anscheinend hat niemand von Ihnen, meine Herren, hierzu etwas zu sagen. Auch ich stehe dieser Meldung ratlos gegenüber. Wie schwer mich das alles trifft, können Sie, die schon so lange mit mir zusammenarbeiten, sich wohl denken. Noch wehre ich mich gegen den Argwohn, in meiner Nähe einen Verräter, einen Spion zu vermuten. Aber« – Kampendonk unterbrach sich und machte hinter seinem Platz ein paar kurze Schritte – »ich habe Ihnen weiter nichts zu sagen, meine Herren, und schließe hiermit die Besprechung.« —
Als eine Stunde später Dr. Wolff die Nummer Bosfelds in Hannover anrief, wurde ihm gesagt, der Herr sei verreist. —
Düsterloh saß derweilen mit schweren Gedanken in seinem Arbeitszimmer. Daß gerade ihm solch unangenehme Sache passieren mußte! Dieser Bosfeld – sollte er sich so in dem Manne getäuscht haben, den er schon seit längerem als fidelen Jagd- und Zechgenossen kannte? Und doch: die scharfsinnigen Folgerungen Dr. Wolffs ließen sich nicht aus der Welt schaffen ...
Und die englische Lady, dieses Teufelsweib? Ein Lockvogel nur, dessen Girren er blindlings folgte, um auf der Leimrute klebenzubleiben? Er, der gerissene Frauenkenner –?
Frauenkenner! Irgend jemand hatte doch noch in den letzten
Tagen das Wort von ihm gebraucht ... Ah, jetzt wußte er’s: Gallardo! Ein eisiger Schreck durchzuckte ihn. Leichter Schweiß perlte auf seiner Stirn. Diese Adrienne? Vielleicht auch solch Lockvogel, den ihm der ausgekochte Exote angedreht?
Ihm stockte der Atem. Er riß die Uhr aus der Tasche. Jetzt mußte sein Bote schon in Hannover sein. Wenn der auftragsgemäß sofort im Auto zu seiner Wohnung fuhr und die Kundenlisten abholte, konnte er bequem eine Stunde später zurück sein.
Einen Augenblick vergaß Düsterloh alles andere. Immer wieder klangen die Worte Kampendonks in seinem Ohr: »Es dürfte Ihnen doch bekannt sein, daß es nicht gestattet ist, wichtiges schriftliches Material aus den Mauern des Werkes zu irgendwelchen Zwecken zu entfernen.« Und er, Düsterloh, hatte ausgerechnet die so streng behüteten Kundenlisten bei sich in seiner Hannoverschen Wohnung! Am Monatsende mußte er in der Aufsichtsratssitzung einen Vortrag über die Absatzgestaltung des letzten Halbjahres halten. Als Unterlagen brauchte er dazu die Kundenlisten und Absatzaufstellungen. Statt diese Arbeit in seinem Büro im Werk zu machen, hatte er sich das ganze Material im Auto mit nach Hannover genommen. Dort lag es nun schon seit Wochen. Für die in- und ausländische Konkurrenz mußte die Kenntnis dieser Listen von allergrößter Bedeutung sein. Kämen sie einem Unberufenen in die Hände, würde das Werk kaum wiedergutzumachenden Schaden erleiden.
Düsterloh ging zu einem Wandschrank, holte sich eine Flasche schweren Weins, füllte sich ein Glas und stürzte es hinunter! »Ach was!« murmelte er vor sich hin. »Ich sehe Gespenster am hellen Tage! Wie hätte Adrienne oder Gallardo wissen können, daß ich die Kundenlisten zu Hause habe und wie lange ich sie dabehalte? Niemand außer Lohmann und mir weiß ja davon – und Lohmann ist doch zweifellos ein Ehrenmann!«
Er trank zu seiner Beruhigung noch ein zweites Glas Wein und setzte sich wieder an seinen Schreibtisch. Aber zu arbeiten vermochte er nicht. Seine Gedanken kehrten immer aufs neue zu den Ereignissen des Vormittags zurück. Als die Uhr die letzte Nachmittagsstunde schlug, wurde ihm etwas leichter zumute. In einer weiteren Stunde würde sein Bote, der Bürodiener Wittebold, ihm die Kundenlisten bringen.
Wittebold war, wie Düsterloh ihn geheißen, sofort zu dessen Wohnung gefahren. Als er in den Vorgarten trat, öffnete sich gerade die Haustür, und eine ältere Frau, mit dem Staubtuch in der Hand, kam heraus. Wittebold zog den Hut. »Guten Tag! Sind Sie vielleicht Frau Körner?«
»Ja – Ich bin die Wirtschafterin des Herrn Direktors. Was wollen Sie denn?«
»Ich heiße Wittebold und bin von Herrn Düsterloh hierhergeschickt worden. Ich soll
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