Kay Scarpetta 16: Scarpetta
schloss die Augen und massierte ihre Schläfen. »Aller Wahrscheinlichkeit nach war es Terri, die Recherchen über Kay angestellt hat. Aber woher wissen wir, dass es nicht Oscar selbst war? Möglicherweise gehören die Laptops ja ihm, und er hat sie aus irgendwelchen Gründen in Terris Wohnung aufbewahrt. Außerdem lautet die Antwort auf deine Frage nein. Wir dürfen uns momentan noch keinen Zugriff auf seine Computer verschaffen, ganz gleich, wie viele davon er auch in seiner Wohnung stehen hat. Erstens fehlt uns sein Einverständnis, und zweitens haben wir keine hinreichenden Verdachtsmomente. «
»Befinden sich seine Fingerabdrücke auf diesen Laptops?« Die Geräte standen neben ihnen auf einem Schreibtisch und waren an einen Server angeschlossen.
»Keine Ahnung«, erwiderte Berger. »Doch das würde auch nichts beweisen, denn er ging ja bei ihr aus und ein. Theoretisch wissen wir nicht, wer der Verfasser dieser Texte ist. Doch eines steht fest: Alles dreht sich um Kay. Das hast du ja schon selbst bemerkt.«
»Sie ist mehr als nur der Mittelpunkt dieser Arbeit. Schau nicht hin, aber im Moment tut sich Folgendes: Das Programm sortiert die Fußnoten. Ebenda und so weiter und so fort sowie diverse Daten. Diese Fußnoten scheinen zu Zitaten von meiner Tante zu gehören.«
»Soll das heißen, dass Terri sie interviewt hat?«
»Irgendjemand muss es getan haben. Lass die Augen geschlossen. Der Computer funktioniert auch ohne deine Hilfe oder Bewunderung. Er sortiert anhand von Nennungen, es sind Tausende, einige in eckigen Klammern, die aus verschiedenen Entwürfen ein und derselben Arbeit stammmen. Hunderte dieser Nennungen beziehen sich auf Interviews, die an verschiedenen Tagen geführt wurden. Angeblich Interviews mit meiner Tante.«
Als Berger die Augen aufschlug, sah sie, wie Wortfragmente und Sätze vorbeiströmten und sich miteinander verknüpften.
»Vielleicht handelt es sich ja um Mitschriften von Interviews, die sie CNN oder irgendwelchen Zeitungen gegeben hat«, schlug sie vor. »Du hast übrigens recht. Beim nächsten Mal frage ich lieber nur nach. Von diesem Zeug wird mir schwindelig. Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Am besten gehe ich jetzt.«
»Es können keine Mitschriften sein«, widersprach Lucy. »Zumindest die meisten nicht. Der zeitliche Ablauf ist nämlich falsch. Scarpetta, 10. November, und Scarpetta, 11. November, dann der 12. und der 13. Das kann nicht sein. Sie hat niemals mit ihr gesprochen. Und auch kein anderer. Das alles hier ist frei erfunden.«
Es war ein ausgesprochen merkwürdiger Anblick, wie Lucy auf ihre Monitore starrte und mit dem Computerprogramm schimpfte, als wäre es ihr bester Freund.
Berger stellte fest, dass Jet Ranger schnarchend unter dem Tisch lag.
»Bezüge auf vier verschiedene Interviews an vier aufeinanderfolgenden Tagen«, meinte Lucy. »Und hier haben wir es noch einmal. Drei aufeinanderfolgende Tage. Das ist in meinen Augen der springende Punkt. Schließlich kommt sie nicht jeden Tag in die Stadt und tritt im Fernsehen auf. Außerdem gibt sie nur selten Zeitungsinterviews. Und das da? Nein, das hat sich niemals so abgespielt.«
Berger überlegte, ob sie aufstehen und sich verabschieden sollte. Doch der bloße Gedanke an eine Taxifahrt war ihr unerträglich. Sicher würde ihr hinten im Wagen übel werden.
»An Thanksgiving? Unmöglich!« Es war, als stritte Lucy sich mit den Daten. »An Thanksgiving waren wir nämlich zusammen in Massachusetts. Sie ist nicht bei CNN aufgetreten und hat ganz sicher weder einer Zeitung noch irgendeiner Studentin ein Interview gegeben.«
17
Ein beißend kalter Wind wehte, und eine schmale Mondsichel stand hoch am Himmel, als Scarpetta und Benton zum Gerichtsmedizinischen Institut gingen.
Der Bürgersteig war nahezu menschenleer, und die wenigen Passanten, denen sie begegneten, schienen kein bestimmtes Ziel und auch kaum einen Lebensinhalt zu haben. Ein junger Mann drehte einen Joint. Ein anderer junger Mann lehnte an einer Mauer und versuchte sich zu wärmen. Scarpetta spürte Blicke im Rücken und fühlte sich leicht beklommen, schutzlos und unwohl in ihrer Haut, und zwar aus Gründen, die zu vielschichtig waren, um sie zu fassen zu kriegen. Gelbe Taxis rasten vorbei. Die beleuchteten Reklameaufsteller auf ihren Dächern warben hauptsächlich für Banken, Finanzierungsfirmen und Kreditunternehmen, typisch für die Nachweihnachtszeit, wenn sich die Menschen den Folgen ihres
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