Kay Scarpetta 16: Scarpetta
so klein, dass Scarpetta einen gedeckten Tisch und die Lebensmittel auf der Arbeitsplatte neben dem Herd erkennen konnte. Das Hähnchen befand sich vermutlich im Backrohr, und nur der Himmel wusste, wie lange es dort bleiben und wie sehr es stinken würde, bis der Vermieter oder Terris Eltern endlich Zutritt zur Wohnung erhielten. Die Hüter des Gesetzes waren weder verpflichtet noch berechtigt, am Schauplatz eines Gewaltverbrechens sauber zu machen, ganz gleich, ob es sich nun um Blutlachen oder ein nicht verzehrtes Festtagsmenü handelte.
»Lasst mich die offensichtliche Frage stellen«, sagte Scarpetta in den Raum hinein. »War sie wirklich die Person, die umgebracht werden sollte? Besteht die Möglichkeit einer Verwechslung? Schließlich gibt es gegenüber noch eine Wohnung und oben zwei weitere.«
»Mein Wahlspruch lautet, dass alles möglich ist«, entgegnete Berger. »Allerdings hat sie die Tür geöffnet. Falls sie es nicht getan hat, muss derjenige einen Schlüssel gehabt haben. Und das weist daraufhin, dass sie den Täter kannte. Sie haben von einem Zugang zum Dach gesprochen«, fügte sie, an Marino gewandt, hinzu. »Gibt es dazu neue Erkenntnisse?«
»Eine SMS von Morales«, antwortete er. »Er schreibt, als er letzte Nacht am Tatort war, stand die Leiter genau dort, wo er sie auch nach dem Installieren der Kamera auf dem Dach vorgefunden hat, nämlich im Werkzeugschrank.«
Bei diesen Worten bekam sein Gesicht einen Ausdruck, als kenne er einen Witz, den er lieber für sich behalten wollte.
»Also haben wir nichts Neues. Keine Informationen über einen möglichen Verdächtigen oder Zeugen unter den anderen Mietern? «, erkundigte sich Berger bei Marino. Sie standen immer noch an der Wohnungstür.
»Laut Aussage des Vermieters, der auf Long Island lebt, war sie eine sehr ruhige Mieterin, die sich jedoch häufig beschwerte und eine Neigung zum Querulantenturn hatte«, antwortete Marino. »Interessant ist aber, dass sie Reparaturen, die sie nicht selbst durchführen konnte, nie vom Vermieter erledigen ließ, sondern sagte, sie werde selbst jemanden kommen lassen. Seiner Ansicht nach führte sie eine Liste über sämtliche Missstände, nur für den Fall, dass er die Idee haben sollte, die Miete zu erhöhen.«
»Offenbar war der Vermieter kein großer Fan von ihr«, stellte Benton fest.
»Er hat sie wiederholt als fordernd bezeichnet«, entgegnete Marino. »Dauernd hat sie ihn mit E-Mails bombardiert, ihn allerdings nie angerufen. In seinen Worten, als wolle sie Beweise für ein Gerichtsverfahren sammeln.«
»Wir können Lucy bitten, diese E-Mails zu suchen«, schlug Berger vor. »Wissen wir, welchen ihrer achtzehn Benutzernamen sie verwendet hat, um sich bei ihrem Vermieter zu beschweren? Ganz sicher nicht Lunasee, sonst hätten Lucy und ich vorhin diese Korrespondenz gefunden. Übrigens habe ich ihr gesagt, sie soll alle Ergebnisse an mich weiterleiten. Also bleiben wir alle online, während sie die in dieser Wohnung sichergestellten Laptops durcharbeitet.«
»Der Benutzername lautet Railroadrun. To railroad bedeutet als Verb doch auch, jemanden über den Tisch zu ziehen«, erklärte Marino. »Nach Aussage des Vermieters lautet so ihre E-Mail-Adresse. Jedenfalls scheint sie eine ziemliche Landplage gewesen zu sein.«
»Und offenbar hatte sie jemanden, der ihr bei den Reparaturen half«, fügte Scarpetta hinzu.
»Ja, und ich habe meine Zweifel, dass Oscar dieser Jemand ist«, sagte Berger. »In den E-Mails, die wir bis jetzt gelesen haben, weist nichts daraufhin. Keine einzige Mail, in der sie ihn bittet, ihre verstopfte Toilette wieder freizukriegen oder eine Glühbirne an der Decke zu wechseln. Außerdem hätte er wegen seiner Größe sicher Schwierigkeiten damit gehabt.«
»In dem Schrank im ersten Stock steht eine Leiter«, sagte Marino.
»Ich möchte die Wohnung zuerst allein begehen«, verkündete Scarpetta.
Sie steckte das Maßband in die Jackentasche und warf einen Blick auf die Inventurliste, um sich zu vergewissern, welcher Markierungskegel zu welchem vom Tatort entfernten Gegenstand gehörte. Etwa einen Meter achtzig von der Tür entfernt befand sich Kegel Nummer eins. Hier hatte die Taschenlampe gelegen, laut Beschreibung eine Luxeon Star aus schwarzem Metall mit zwei Duracell-Lithiumbatterien und in funktionstüchtigem Zustand. Im Gegensatz zu Oscars Schilderung war sie nicht aus Plastik, was vermutlich nicht weiter wichtig war. Allerdings
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