Kay Scarpetta 16: Scarpetta
Nachbarn, der derzeit zu Hause ist«, erklärte Berger. »Einem Typen, den sich keiner als Hausarzt wünschen würde. Soweit ich informiert bin, herrschen in seiner Wohnung nur etwa fünfzehn Grad, weil sämtliche Fenster offen stehen. Das Gras kann man aber immer noch riechen. Wir haben vor dem Gebäude Kollegen postiert, die verhindern, dass jemand das Haus betritt. Lucy kümmert sich um den Computer im Wohnzimmer.«
»Hat dieser Nachbar denn nicht bemerkt, dass die verdammte Dachluke offen war und dass nirgendwo Licht brannte?«, fragte Scarpetta. »Wann, zum Teufel, ist er denn nach Hause gekommen?«
Sie sah sich noch immer um, ohne etwas zu berühren. Die Leiche drehte sich im flackernden Licht der Lampen weiterhin langsam an ihrer Kordel.
»Wir wissen nur, dass er gegen neun zurückgekehrt sein will und das Licht zu diesem Zeitpunkt noch an war. Die Dachluke soll auch geschlossen gewesen sein«, erwiderte Berger. »Angeblich ist er vor dem Fernseher eingeschlafen und hat nicht gehört, dass jemand ins Haus eingedrungen ist, vorausgesetzt, wir können ihm das glauben.«
»Ich denke, das können wir.«
»Die Leiter zur Dachluke wird hier oben in einem Werkzeugschrank aufbewahrt. Genauso wie gegenüber. Laut Benton befindet sich diese Leiter eindeutig auf dem Dach. Entweder kannte sich der Täter im Haus aus oder ist mit Gebäuden wie diesem und Terris vertraut und musste die Leiter deshalb nicht lange suchen. Dann ist er einfach durch die Dachluke gestiegen und hat die Leiter hochgezogen.«
»Und wie soll er ins Haus gekommen sein?«
»Momentan verfolgen wir die Theorie, dass sie ihn selbst reingelassen hat. Das Licht hat er vermutlich auf dem Weg nach oben in ihre Wohnung ausgemacht. Offenbar kannte sie ihn oder hatte zumindest keine Angst vor ihm. Außerdem behauptet der Nachbar, keine Schreie gehört zu haben, was interessant ist. Ist es denn möglich, dass sie nicht geschrien hat?«
»Ich erzähle dir jetzt, was ich hier sehe«, entgegnete Scarpetta. »Vielleicht beantwortet das deine Frage. Erstens erkenne ich schon aus der Entfernung an ihrem geröteten Gesicht, der heraushängenden Zunge, der in einem steilen Winkel dicht unterhalb ihres Kinns verlaufenden und hinter dem rechten Ohr verknoteten Schlinge sowie dem Fehlen anderer offensichtlicher Würgemale, dass es sich vermutlich um Tod durch Erhängen handelt. Ich denke nicht, dass sie zuerst mit einer Garotte erdrosselt oder mit einer Würgefessel malträtiert und anschließend mit einer Vorhangkordel an der Lampenfassung aufgehängt worden ist.«
»Jetzt bin ich genauso schlau wie vorher«, sagte Berger. »Denn ich begreife einfach nicht, warum sie nicht geschrien hat. Wenn einem jemand die Hände hinter dem Rücken und dann die Fußknöchel zusammenschnürt, und zwar ziemlich fest mit einer Art Plastikfessel. Zu allem Überfluss war sie nackt ... «
»Keine Plastikfessel. Es scheinen die gleichen Bänder zu sein wie bei Terri Bridges. Außerdem wurden ihr, eine weitere Gemeinsamkeit mit dem Mord an Terri, die Kleider vom Leibe geschnitten. Ich glaube, er will uns mitteilen, dass er einem ganz bestimmten zeitlichen Ablauf folgt, und dabei gibt er sich alle erdenkliche Mühe. Selbst die Lampen hat er eigens dort hingestellt, damit wir etwas sehen können, denn die einzige Beleuchtung im Bad hatte er ja abmontiert und ebenfalls in die Badewanne gelegt.«
»Du nimmst also an, dass er die Lampen für uns drapiert hat?«
»Zuerst einmal für sich selbst. Schließlich brauchte er Licht, um sein Werk zu vollenden. Dann hat er sie stehen gelassen, damit derjenige, der die Leiche findet, sofort ins Bad läuft. Das erhöht den Schockeffekt.«
»Erinnert mich an Gainesville. Der abgehackte Kopf im Bücherregal«, sagte Berger und blickte an Scarpetta vorbei auf die Leiche, die sich immer noch in einem makabren und grausigen Todestanz drehte.
»In gewisser Weise«, antwortete Scarpetta. »Das und die Tatsache, dass die Leiche ständig in Bewegung bleibt, vermutlich der Grund, warum das Fenster offen steht. Aller Wahrscheinlichkeit nach handelt es sich um den letzten Pinselstrich, bevor er sich aus dem Staub gemacht hat.«
»Außerdem beschleunigt er auf diese Weise künstlich das Auskühlen der Leiche.«
»Ich denke, das war ihm egal«, entgegnete Scarpetta. »Sicher hat er das Fenster aufgemacht, damit der Wind hereinweht und genau diesen Effekt erzeugt. Er wollte sie zum Tanzen bringen.«
Schweigend
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