Kay Scarpetta 16: Scarpetta
ihm der Gedanke zu, die Waffe könnte ihr so wichtig sein, dass sie gegen das geltende New Yorker Gesetz verstieß und damit eine Gefängnisstrafe riskierte. Lucy würde sich nie verbieten lassen, eine Waffe zu tragen.
Sie stieg aus seinem Wagen und kam zurückgelaufen. Marino spielte mit dem Gedanken, den Stier bei den Hörnern zu packen und sie zu fragen, ob sie eine Waffe bei sich hatte, und wenn ja, welche. Doch er tat es nicht. Sie stellte sich neben Berger. Zwischen den beiden lief etwas, das war Marino ebenso wenig entgangen wie die Pistol-Pete-Jacke. Normalerweise stand oder saß Berger nie dicht bei anderen Menschen. Nie ließ sie es zu, dass jemand die unsichtbare Barriere durchbrach, die sie um sich errichtet hatte und die sie für unverzichtbar hielt. Doch nun berührte sie Lucy. Sie lehnte sich an sie und sah sie oft an.
Lucy reichte Marino sein Funkgerät.
»Offenbar bist du ein bisschen eingerostet. Zu lange keine richtige Polizeiarbeit mehr?«, meinte Lucy ernst und ohne eine Miene zu verziehen, auch wenn er ihr Gesicht in der Dunkelheit kaum erkennen konnte. »Es war keine gute Idee, das Funkgerät im Auto zu lassen. Kleine Versäumnisse wie diese können dazu führen, dass jemand zu Schaden kommt.«
»Wenn ich einen Kurs bei dir belegen will, melde ich mich an«, entgegnete er.
»Mal schauen, ob ich noch Plätze frei habe.«
Marino funkte die Verstärkung an, um festzustellen, wo die Kollegen waren.
»Wir biegen gleich um die Ecke«, lautete die Antwort. »Mit Blaulicht und Sirene«, sagte Marino.
Er drückte auf den Knopf der Gegensprechanlage. »Hallo?«, meldete sich die Stimme.
»Dr. Wilson, Sie öffnen jetzt sofort die Tür. Sonst lasse ich sie aufbrechen!«
Eine Sirene heulte. Im nächsten Moment hörte er ein Surren und schob die Tür auf. In der kleinen Vorhalle machte er Licht. Direkt vor ihm führte eine gebohnerte alte Holztreppe nach oben. Marino zückte die Pistole und wies die Verstärkung per Funk an, Blaulicht und Sirene abzuschalten und die Vorderseite des Gebäudes im Auge zu behalten. Dann eilte er, gefolgt von Lucy und Berger, die Treppe hinauf.
Im zweiten Stock spürte er die kalte Luft, die durch die offene Dachluke hereinströmte. Auch hier brannte kein Licht. Marino tastete an der Wand nach dem Lichtschalter. Durch die Öffnung konnte er den Nachthimmel sehen. Eine Leiter war nicht in Sicht, und seine böse Vorahnung wuchs. Bestimmt lag die Leiter auf dem Dach. Im nächsten Moment bemerkte er, dass die Tür von ID nur angelehnt war. Er schob Berger zur Seite und sah Lucy an. Marino stand unter Hochspannung, als er die Tür auftrat, so dass sie mit einem dumpfen Geräusch an die Wand prallte.
»Polizei!«, rief er und streckte die Pistole mit beiden Händen von sich. »Ist hier jemand? Polizei!«
Er brauchte Lucy nicht eigens aufzufordern, mit der Taschenlampe den Raum abzuleuchten, denn sie tat es bereits. Ihr Arm glitt an seiner Schulter vorbei. Als sie den Lichtschalter betätigte, tauchte ein alter, verschnörkelter Kronleuchter das Zimmer in einen weichen Schein. Marino und Lucy traten ein und bedeuteten Berger, sich hinter ihnen zu halten. Eine Zeitlang blieben sie reglos stehen. Während sie sich umsahen, lief Marino der kalte Schweiß den Rücken hinunter. Er wischte sich die Stirn mit dem Ärmel ab und warf einen Blick auf den mit braunem Cord bezogenen Lehnsessel, wo er vorhin noch gesessen, und auf das Sofa, wo Mrs. Peebles ihren Bourbon getrunken hatte. Der Flachbildfernseher an der Wand war eingeschaltet, allerdings ohne Ton. Der Hundeflüsterer redete lautlos auf einen Beagle mit gefletschten Zähnen ein.
In allen Zimmern waren die alten hölzernen Fensterläden geschlossen. Als Lucy auf eine Taste des Computers auf dem Schreibtisch drückte, erschien die völlig verwüstete Website von Gotham Gotcha auf dem Bildschirm.
Gotham Gotcha verwandelte sich in OH C Tha Maggot. Die New Yorker Skyline hob sich schwarz von einem blinkenden roten Hintergrund ab. Der Weihnachtsbaum vor dem Rockefeller Center stand im Central Park kopf, ein Schneesturm tobte, Blitze zuckten, und im Spielwarenladen FAO Schwarz donnerte es, bis kurz darauf die Freiheitsstatue explodierte.
Berger musterte schweigend den Monitor und starrte dann Lucy an.
»Macht weiter«, meinte Lucy zu Marino, was hieß, dass sie ihm und Berger Rückendeckung geben würde, während sie die Wohnung durchsuchten.
Marino sah in der Küche, auf der
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