Kay Scarpetta 16: Scarpetta
Schuhabdrücke stimmten dem Profil nach genau mit den Schuhen überein, die Oscar Bane an dem Abend getragen hatte, an dem er Terris Leiche gefunden haben wollte.
Noch belastender waren die Fingerabdrücke an dem Lampenschirm, den der Mörder von der Decke genommen und in die Badewanne gelegt hatte - sie stammten ebenfalls von Oscar. Kurz nach Mitternacht wurde der Haftbefehl erlassen und per Funk und im Internet bekannt gegeben, dass Oscar nun auf der Fahndungsliste stand.
Inzwischen nannte man ihn nicht mehr »Killerzwerg«, sondern »Monsterzwerg«, und die Polizei fahndete im ganzen Land nach ihm. Morales hatte auch Interpol verständigt, für den Fall, dass es Oscar gelingen sollte, dem Flughafensicherheitsdienst und den Grenzkontrollen durch die Maschen zu schlüpfen und die Vereinigten Staaten zu verlassen. Viele Zeugen wollten ihn angeblich gesehen haben. Um drei Uhr morgens meldete eine Nachrichtensendung, viele Kleinwüchsige, insbesondere junge Männer, wagten sich inzwischen aus Angst vor Belästigung oder noch Schlimmerem nicht mehr aus dem Haus.
Inzwischen war es Mittwochmorgen kurz vor fünf. Scarpetta, Benton, Morales, Lucy, Marino und eine Ermittlerin aus Baltimore, die darauf bestand, mit ihrem Nachnamen Bacardi - angesprochen zu werden, saßen schon seit Stunden im Wohnzimmer von Bergers Penthousewohnung. Auf dem Couchtisch türmten sich Fotos und Fallakten, und überall standen Kaffeebecher und Tüten von einem nahe gelegenen Imbiss herum, der die ganze Nacht geöffnet hatte. Stromkabel verbanden Laptops mit den Steckdosen an den Wänden. Alle Anwesenden bearbeiteten ihre Tastaturen, blätterten in Akten oder erörterten den Fall.
Lucy saß, ihr MacBook auf dem Schoß, im Schneidersitz in einer Ecke des geschwungenen Sofas, warf hin und wieder einen Blick auf Morales und fragte sich, ob sie nicht im Begriff war, sich in etwas zu verrennen. Berger hatte eine Flasche Knappogue Castle Single Malt - einen irischen Whiskey, Jahrgang einundfünfzig - und eine Flasche dreißigjährigen Brora Single Malt Scotch im Haus, deutlich sichtbar durch die Glasscheibe der Hausbar gegenüber. Ihr waren die Flaschen beim Betreten des Zimmers sofort aufgefallen. Und als Morales ihren Blick bemerkt hatte, war er hingegangen, um sie sich aus der Nähe anzusehen.
»Ein Mädchen mit meinem Geschmack«, hatte er gesagt. Sein Tonfall hatte in Lucy ein beklommenes Gefühl ausgelöst, das sie einfach nicht loswurde und das sie daran hinderte, sich zu konzentrieren. Berger hatte neben ihr im Loft gesessen, als sie das vermeintliche Interview gelesen hatte. Darin hatte Scarpetta Terri Bridges angeblich erzählt, sie trinke Whisky, der sicher mehr koste als Terris Lehrbücher. Warum hatte Berger geschwiegen? Wie konnte sie diese äußerst seltenen und teuren Whiskymarken im Schrank haben, ohne es Lucy gegenüber zu erwähnen?
Berger trank dieses Zeug. Nicht Scarpetta. Und noch beunruhigender war die Vorstellung, in wessen Gesellschaft sie das wohl tat. Dieser Gedanke war ihr beim Anblick von Morales' Miene, als sie die Flaschen in der Hausbar bemerkt hatte, sofort gekommen. Sein Grinsen war beinahe selbstgefällig gewesen, und während er sie nun betrachtete, stand ein Funkeln in seinen Augen, als hätte er einen Wettbewerb gewonnen, von dem Lucy nichts wusste.
Bacardi und Scarpetta debattierten heftig, und zwar schon seit einer geraumen Zeit.
»Nein, nein, nein, Oscar kommt bei meinen beiden Leichen nicht als Täter in Frage.« Bacardi schüttelte den Kopf. »Hoffentlich trete ich niemandem auf die Zehen, wenn ich das Wort Zwerg benutze, aber an „kleinwüchsig“ kann ich mich einfach nicht gewöhnen. Schließlich bin ich auch nicht gerade die Größte, und außerdem bringt man einem alten Hund keine neuen Tricks mehr bei. Ich bin froh, wenn ich nicht die vergesse, die ich schon kann.«
Bacardi war zwar ziemlich klein, allerdings nicht kleinwüchsig. Lucy hatte im Leben schon zahlreiche Bacardis kennengelernt. Die meisten fuhren Harleys, Frauen um die eins fünfzig, die darauf bestanden, auf den dicksten Maschinen herumzukurven, acht Zentner Metall, obwohl ihre Füße dabei kaum den Boden berührten. Am Anfang ihrer Laufbahn bei der Polizei von Baltimore hatte Bacardi einer Motorradeinheit angehört, was man ihrem Gesicht ansah - einem Gesicht, das zu oft Sonne und Wind ausgesetzt gewesen war. Außerdem kniff sie häufig die Augen zusammen und verzog finster das Gesicht.
Sie hatte kurzes
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