Kay Scarpetta 16: Scarpetta
darüber, warum ein Mann, der offenbar zu leben verstand, sich eine Frau ausgesucht hatte, mit der er wegen einer Laune der Natur heraus das alles nie würde wirklich teilen können.
So als hätte man sich bei einer Mathematikaufgabe um eine Stelle verrechnet. Bis man die lange und komplizierte Gleichung durchgeackert hatte, war man Lichtjahre vom Rechenergebnis entfernt und hatte die Prüfung versiebt. Berger war die richtige Person, aber die falsche Lösung. Lucy hatte ein wenig Mitleid mit Greg, wusste aber, dass sie selbst von dieser Situation profitierte. Denn sie empfand ein so unbeschreibliches Glücksgefühl, wie sie es noch nie gekannt hatte. Das ganze Leben war so aufbauend, so erfrischend.
Es war, als hörte man sich immer wieder dasselbe berauschende Musikstück an, wie sie es gerade unter der Dusche getan hatte. Jede Berührung, jeder Blick, jede zufällige Absichtlichkeit, die dazu führte, dass zwei Körper sich erotisch streiften. Gleichzeitig ging es ans Herz, weil es wirklich etwas zu bedeuten hatte. Es war keine schäbige Bettgeschichte, geprägt von Schuldgefühlen und Scham. Alles passte, und Lucy konnte kaum fassen, dass es ihr tatsächlich geschehen war.
Es war ein Traum, den sie nie zu träumen gewagt hatte.
Nicht etwa aus Furcht wäre sie nie auf den Gedanken gekommen, sich so etwas zu wünschen. Sie hatte einfach ebenso wenig darüber nachgedacht wie über Außerirdische, schnelle Flugzeuge oder Rennwagen. Denn die einen gab es nicht, die anderen konnte sie sich jederzeit spontan kaufen. Deshalb hatte Lucy auch keinen Gedanken daran verschwendet, was mit Jaime Berger möglich oder nicht möglich wäre, auch wenn sie bei ihren früheren seltenen Begegnungen stets Schwindel und Aufgeregtheit empfunden hatte. So, als hätte man sie aufgefordert, mit einem Löwen oder einem Tiger zu spielen, einem Tier, mit dem sie sich nie in einem Raum aufhalten, geschweige denn es streicheln würde.
Lucy stand in der dampfenden Dusche auf. Wegen der beschlagenen Scheibe konnte sie nichts sehen. Dabei überlegte sie, wie sie es ihrer Tante am besten in einem offenen Gespräch beibringen sollte.
Als sie die Tür öffnete, bewegte sich davor eine Gestalt.
Dampf umhüllte Mike Morales' Gesicht. Er lächelte sie an. Seine Pistole war nur wenige Zentimeter von ihrem Kopf entfernt.
»Stirb, du Schlampe«, sagte er.
Die Tür gab unter der Wucht des Rammbocks nach und schlug gegen die Wand. Bacardi und der uniformierte Kollege, der, wie sie glaubte, Ben hieß, hörten beim Eintreten der Wohnung ID die leise Musik von Coldplay und standen vor Dr. Kay Scarpetta. »Was zum Teufel soll das!«, entfuhr es Bacardi.
Alle Wände waren mit Abbildungen von Scarpetta bedeckt. Poster, einige vom Boden bis zur Decke reichend, keine gestellten Aufnahmen, sondern Schnappschüsse, entstanden im Studio von CNN, am Ground Zero oder in der Gerichtsmedizin, wo sie abgelenkt gewesen war und nicht ahnte, dass sie gerade fotografiert wurde. Bacardi nannte so etwas ein Gedankenverbrechen: Die handelnde Person übte zwar keine körperliche Gewalt aus, bemächtigte sich aber gedanklich ihres Opfers.
»Das ist ja ein Altar!«, rief Ben oder wie er auch immer heißen mochte.
Die Wohnung lag im hinteren Teil des Hauses, eine Etage über der von Terri Bridges. Bis auf einen schlichten Schreibtisch aus Ahornholz an einer Wand und einen Bürostuhl war sie unmöbliert. Auf dem Tisch stand ein Laptop, eines dieser neuen Airbooks oder wie man die Dinger heutzutage nannte. Jedenfalls waren sie sündhaft teuer und federleicht. Bacardi hatte gehört, dass manche Menschen sie schon versehentlich mit einem Stapel Zeitungen weggeworfen hatten, und konnte sich das gut vorstellen. Der Laptop war mit einem Ladegerät verbunden. Auf iTunes lief »Clocks«, leise gestellt und auf Endlosschleife. Der Himmel wusste, wie lange das Lied schon spielte, denn jemand hatte auf dem Menü »Repeat« angeklickt.
Außerdem standen auf dem Tisch vier winzige Vasen aus billigem Kristallglas, jede mit einer verwelkten Rose darin. Bacardi ging zum Schreibtisch und zupfte ein Blütenblatt ab. »Gelb«, sagte sie.
Officer Ben, wie sie ihn nun in Gedanken nannte, war so sehr damit beschäftigt, den Scarpetta-Altar zu begutachten, dass er sich nicht für ein paar verwelkte Rosen interessierte. Offenbar verstand er auch nicht, dass die Farbe Gelb für eine Frau eine Bedeutung hatte. Doch Bacardi wusste es besser. Ein Mann, der einer Frau gelbe Rosen
Weitere Kostenlose Bücher