Kay Scarpetta 16: Scarpetta
nehmen? Sicherlich die Frau, die er zu erobern versuchte, seit er Ermittler geworden war. Die Frau, über die er Lügen in die Welt setzte, um den falschen Eindruck zu erwecken, er ginge mit der für Sexualdelikte zuständigen Staatsanwältin ins Bett. Aber das stimmte nicht. Weit gefehlt.
Morales war nämlich nicht ihr Typ.
Anfangs hatte Marino geglaubt, Bergers Typ zu kennen, nämlich reiche Männer wie Greg. Doch als er sie und Lucy bei der Besprechung in ihrem Wohnzimmer beobachtet und gesehen hatte, wie Lucy ihr in die Küche gefolgt und kurz darauf gegangen war, war bei ihm endgültig der Groschen gefallen.
Bergers Schwäche, ihre Leidenschaft waren nicht die Männer. Sie war gefühlsmäßig und körperlich dem eigenen Geschlecht zugeneigt.
». .. Mr. Bane hat derzeit guten Grund, niemandem über den Weg zu trauen«, erklärte Benton gerade. »Inzwischen wissen wir, dass seine Ängste um seine eigene Sicherheit, die er den Behörden gegenüber zum Ausdruck gebracht hat, nicht aus der Luft gegriffen sind. Wir nehmen sie sehr, sehr ernst ... «
»Moment mal. Gegen ihn wurde doch Haftbefehl wegen Mordes erlassen. Sie müssen schon entschuldigen, aber ich habe ganz den Eindruck, dass Sie hier den Falschen schützen ... «
»Mr. Bane, wenn Sie mich hören können« - Benton wandte sich zur Kamera -, »müssen Sie das FBI anrufen, und zwar die nächste Niederlassung, ganz gleich, wo Sie sich befinden. Dann wird man Sie in Sicherheit bringen.«
»Ich denke, dass eher wir es sind, die uns Gedanken um unsere Sicherheit machen sollten, meinen Sie nicht, Dr. Wesley?
Er ist es doch, den die Polizei des Mordes ...«
»Ich habe nicht vor, den Fall mit Ihnen zu erörtern, Jim. Danke, dass Sie mir Ihre Zeit geopfert haben.«
Benton nahm das Mikrofon vom Revers und stand auf. »Nun, das ist ein außergewöhnlicher Moment in der Geschichte der Strafverfolgung in New York. Zwei Morde erschüttern diese Stadt, und der legendäre - ich glaube, dieses Wort passt - Profiler Benton Wesley appelliert an den Mann, den alle für den Täter halten ... «
»Mist«, zischte Marino.
Niemals würde Oscar das FBI anrufen. Das hätte kein Mensch nach so einer Sendung getan.
Marino loggte sich aus und verließ das Netz. Sein Schritt wurde schneller. Unter der alten Harley-Jacke aus Leder brach ihm der Schweiß aus, und von der kalten Luft tränten ihm die Augen. Die Sonne versuchte, die schweren, dunklen Wolken zu durchdringen. Im nächsten Moment klingelte sein Mobiltelefon.
»Ja«, meldete er sich. Dabei machte er einen Bogen um die anderen Passanten, als hätten sie die Lepra, und sah ihnen nicht ins Gesicht.
»Ich werde mit einigen Leuten in der hiesigen FBI-Niederlassung über unseren Plan sprechen«, sagte Benton.
»Es ist recht gut gelaufen«, meinte Marino.
Benton, der nicht um eine Manöverkritik gebeten hatte, antwortete nicht.
»Ich erledige hier im Studio noch ein paar Anrufe und fahre dann zu Kay«, sagte Benton und klang dabei ziemlich niedergeschlagen.
»Ich glaube, es ist recht gut gelaufen«, wiederholte Marino. »Bestimmt hat Oscar die Sendung gesehen. Sicher ist er in einem Motel, wo es einen Fernseher gibt. Sie werden das Interview Tag und Nacht wiederholen, so viel steht fest.«
Marino blickte an dem zweiundfünfzig Stockwerke hohen Gebäude aus Glas und Metall hinauf bis zu dem Penthouse, das auf den Park zeigte. Über dem pompösen Eingang stand TRUMP in riesigen goldenen Buchstaben. Aber in dieser teuren Gegend schien Gold ohnehin die Lieblingsfarbe zu sein.
»Falls Oscar die Sendung nicht sieht«, sagte Marino wie zu sich selbst, während Benton schwieg, »möchte ich mir die Gründe dafür lieber gar nicht vorstellen. Wenn er sich das Ding nämlich nicht selbst rausoperiert hat, wird jede seiner Bewegungen per GPS überwacht - und du weißt ja sicher, mit wessen GPS. Also hast du richtig gehandelt. Du hattest keine andere Wahl.«
Er redete weiter, bis ihm klar wurde, dass die Verbindung abgebrochen war. Er hatte gar nicht bemerkt, dass er ins Leere gesprochen hatte.
Der Pistolenlauf in Scarpettas Nacken löste nicht die erwartete Panik aus, sondern eher Fassungslosigkeit.
Der Zusammenhang zwischen ihren Handlungen und deren Folgen, zwischen Ursache und Wirkung, zwischen warum und wieso und jetzt und später schien verloren gegangen zu sein. Sie spürte nur eine unbeschreibliche Verzweiflung, weil Morales durch ihr Versagen in Jaime Bergers
Weitere Kostenlose Bücher