Kay Scarpetta 16: Scarpetta
»Normalerweise hassen wir das, was wir fürchten. Und je weniger wir uns fürchten, desto weniger hassen wir.«
Sie verteilte die geruchlose Masse auf seinen Fingerkuppen. Die Silikonpistole gab ein Klicken von sich, wenn sie darauf drückte.
»Hoffentlich werden Angst und Hass mit zunehmendem Bildungsstand sinken. Ich streiche jeden Finger bis zum ersten Knöchel ein. Wenn die Masse trocken ist, lässt sie sich abnehmen, wie die Gummikuppen, die man zum Geldzählen trägt. Dieses Material eignet sich großartig für die Auswertung unter dem Mikroskop.«
Mit einem Holzspatel verteilte und glättete sie die Masse.
Als sie mit den verschiedenen Kratzern und Nagelspuren fertig war, war das Silikon an seinen Fingerspitzen bereits fast trocken. Sie wunderte sich, warum er sie nicht gefragt hatte, wozu sie die Abdrücke von seinen Fingerspitzen, insbesondere von seinen Fingernägeln, sowie der Kratzer brauchte, die angeblich von dem fremden Angreifer stammten. Oscar erkundigte sich nicht danach, weil er die Antwort vermutlich schon kannte. Außerdem benötigte sie die Abdrücke weniger dafür, um sie unter dem Mikroskop zu untersuchen, sondern interessierte sich eher für seine Reaktion auf diesen Vorgang.
»So. Könnten Sie jetzt bitte die Hände heben«, forderte sie ihn auf.
Sie blickte in seine blau-grünen Augen.
»Es ist kühl hier«, sagte sie. »Sicher nicht mehr als fünfzehn Grad. In etwa vier Minuten sollte alles trocken sein. Ich ziehe Ihren Kittel wieder hoch, damit Sie nicht frieren müssen.«
Der scharfe Geruch nach Angst und Gefangenschaft stieg ihr in die Nase. Sie roch ungeputzte Zähne und einen Hauch Rasierwasser. Hätte ein Mann, der vorhatte, seine Geliebte zu ermorden, vorher Rasierwasser benutzt?
11
Lucy hängte ihre Lederjacke an den Garderobenhaken, ließ sich unaufgefordert neben Berger nieder und klappte ihr MacBook Air auf.
»Eigentlich bin ich es gewöhnt, dass man auf der anderen Seite meines Schreibtischs Platz nimmt«, meinte Berger. »Ich muss dir etwas zeigen«, erwiderte Lucy. »Du siehst gut aus. Unverändert.«
Sie musterte Berger unverhohlen.
»Nein, ich habe mich geirrt«, fuhr Lucy fort. »Du siehst vielleicht noch besser aus als vor acht Jahren, als wir uns kennen gelernt haben und ein paar Straßen weiter noch zwei Türme standen. Wenn ich mit dem Hubschrauber unterwegs bin und die Silhouette von New York näher kommt, sieht es aus, als hätte jemand der Stadt zwei Schneidezähne ausgeschlagen. Dann fliege ich weiter den Hudson entlang und komme am Ground Zero vorbei, der immer noch ein Loch ist.«
»Darüber macht man keine Scherze«, entgegnete Berger. »Das habe ich auch nicht. Ich wünschte nur, es würde sich endlich ändern, damit ich das Gefühl loswerde, die Bösen hätten gewonnen.«
Berger konnte sich nicht erinnern, dass Lucy jemals etwas anderes als einen Kampfanzug getragen hätte. Unter der engen, fadenscheinigen Jeans und dem schwarzen T-Shirt hätte sie hingegen keine Waffe verstecken können. Auch sonst verbarg die Kleidung nicht viel, vor allem nicht, dass Lucy Geld hatte. Der breite Gürtel war von Winston, bestand aus Krokodilleder und hatte eine Schließe in Form eines Säbelzahntigers, aus Edelmetallen und wertvollen Steinen handgefertigt. Die dicke Kette mit dem Totenkopf aus Türkis um ihren Hals, ebenfalls von Winston, kostete ein Vermögen. Lucy wirkte bemerkenswert gesund und kräftig. Ihr kastanienbraunes Haar mit den rotgoldenen Strähnen war ziemlich kurz geschnitten. Ohne Brüste hätte sie als attraktives männliches Fotomodell durchgehen können.
»Terri Bridges' Laptops«, begann Lucy.
Berger wies auf einen Tisch neben der geschlossenen Tür.
Darauf lag ein in braunes Papier gewickeltes Paket, das ordentlich mit rotem Asservatenband verschlossen war.
Lucy betrachtete das Paket, als wäre sie über sein Vorhandensein erstaunt.
»Ich nehme an, du hast einen Durchsuchungsbeschluss«, stellte sie fest. »Hat sich schon jemand die Festplatten angesehen?«
»Nein. Deswegen bist du hier.«
»Wenn ich ihren E-Mail-Account herauskriege, werden wir auch dafür eine richterliche Genehmigung brauchen, und zwar schnell. Außerdem hätte ich gern die Accounts der Leute, mit denen sie in Kontakt stand - nicht nur das des Typen, der im Bellevue sitzt.«
»Kein Problem.«
»Wenn ich erst einmal ihren Provider kenne, benötige ich auch noch die Passwörter, um ihren E-Mail-Verkehr zu
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