Kay Scarpetta 16: Scarpetta
gerade viel Material.« »Mag sein«, erwiderte Marino. »Allerdings gibt es in Ihrem und in meinem Fall Ähnlichkeiten in der Vorgehensweise.
Dasselbe gilt für den Fall in Greenwich, von dem Sie vermutlich gehört haben.«
»Ich habe über den Akten gebrütet, bis mir die Augen aus dem Kopf gefallen sind. Meine Ehe ist darüber kaputtgegangen. Er ist letztes Jahr an Krebs gestorben. Nicht mein Ex, sondern der Detective aus Greenwich. Wo kommen Sie eigentlich her? Sie klingen nach New Jersey.«
»Ja, aus der schlechteren Gegend. Das mit dem Detective aus Greenwich tut mir leid. Was für einen Krebs hatte er denn?«
»Leber.«
»Den würde ich vermutlich auch kriegen, wenn ich noch eine Leber hätte.«
»Er war von einem Tag auf den anderen weg. Genau wie mein Ex und meine letzten zwei Freunde.«
Marino fragte sich, wie alt sie wohl sein mochte und ob sie ihm damit mitteilen wollte, dass sie solo war.
»Zurück zum Fall Terri Bridges«, sagte er. »Sie hatte ein Goldkettchen am linken Knöchel. Nach den Fotos zu urteilen, ein sehr dünnes. Die Leiche selbst habe ich nicht gesehen, denn ich war weder am Tatort noch in der Gerichtsmedizin.«
»Echtes Gold?«
»Wie ich schon sagte, kenne ich nur die Fotos. Aber im Bericht steht etwas von zehn Karat. Vermutlich ein Stempel auf dem Verschluss. Keine Ahnung, wie man das sonst rauskriegt.«
»Ich erkenne das, indem ich es anschaue. Ich kann Ihnen alles über Schmuck erzählen, was Sie wissen wollen. Echten, falschen, schönen, hässlichen, teuren, billigen. Früher war ich nämlich beim Diebstahl. Außerdem stehe ich auf Sachen, die ich mir nicht leisten kann, und verzichte lieber ganz darauf, bevor ich mir Müll zulege. Sie verstehen sicher, was ich meine.«
Marino wurde sich des billigen chinesischen Imitats eines italienischen Designeranzugs bewusst, den er trug. Bestimmt würde er eine schwarze Wasserspur hinter sich herziehen wie ein Tintenfisch, wenn er damit in den Regen geriet. Nachdem er das Sakko abgelegt hatte, warf er es über einen Stuhl. Dann zerrte er sich die Krawatte vom Hals. Er konnte es kaum erwarten, in Jeans, einen Pulli und in die alte, mit Vlies gefütterte Harley-Lederjacke zu schlüpfen, die nicht im Gebrauchtwarenladen gelandet war.
»Können Sie mir ein Foto von Terri Bridges' Fußkettchen mailen?«, erkundigte sich Bacardi.
Ihre Stimme klang melodiös und fröhlich. Außerdem schien sie ihren Beruf zu lieben und sich für Marino zu interessieren. Das Gespräch mit ihr wirkte so belebend auf ihn wie schon lange nichts mehr. Vielleicht lag es daran, dass er vergessen hatte, wie es war, wenn man wie ein gleichberechtigter Mensch behandelt wurde und - was noch wichtiger war - den Respekt erhielt, den man verdiente. Was hatte sich in den letzten Jahren nur verändert, dass er sich so unwohl in seiner Haut fühlte?
In Charleston hatte er das Unglück regelrecht herausgefordert. Daran gab es nichts zu rütteln. Und der springende Punkt war eben nicht die Sucht nach einem Stoff, der in Flaschen geliefert wurde. Diese Erkenntnis hatte zu einer heftigen Auseinandersetzung mit Nancy, seiner Therapeutin, und zu einem unschönen Streit geführt. Das war kurz vor dem Abschluss seiner Therapie gewesen. Sie hatte die Debatte vom Zaun gebrochen, indem sie behauptet hatte, nur der Alkoholismus sei schuld an allem, was in seinem Leben schief gelaufen sei. Und wenn Trinker oder Junkies älter würden, verschärften sich nun einmal ihre Probleme.
Sie hatte sogar ein Diagramm für ihn gezeichnet, als sie an jenem sonnigen Juninachmittag allein in der Kapelle saßen. Die Fenster standen offen, so dass er die Meeresluft riechen und die Möwen schreien hören konnte, die über der felsigen Nordküste schwebten. Eigentlich hätte er jetzt dort draußen sein und angeln oder Motorrad fahren sollen. Oder noch besser, irgendwo sitzen, die Füße hochlegen und den Alkohol trinken, anstatt ihm die Schuld an seinem verpfuschten Leben zu geben. Nancy hatte ihm schwarz auf weiß aufgelistet, wie es mit ihm stetig bergab gegangen war, seit er mit zwölf das Bier als seinen besten Freund entdeckt hatte. Da standen sie, die belastenden Ereignisse, festgehalten in dicker schwarzer Tinte:
Prügeleien
Schlechte schul. Lstg. Einsamkeit Wechselnder GV Beziehungsunf.
Riskanter Lebensstil/Boxen/Waffen/Polizei/Motorrad
Fast eine Stunde lang hatte Nancy seine Fehler aufgelistet und dabei Abkürzungen verwendet, die sie ihm erst
Weitere Kostenlose Bücher