Kay Scarpetta bittet zu Tisch
häßlichen, vierstöckigen Gebäude aus Betonfertigteilen mit seinen kleinen Fenstern und lauernden Ansteckungsgefahren vermißt hätte, doch wurden viele Erinnerungen wieder wach. Sie dachte an Episoden, die sie durchlebt hatte, an Lucy als kleines Mädchen, an Beziehungen, die Narben hinterlassen hatten. Scarpetta dachte auch an den Tod, an die, um die sie sich kümmern mußte und die einmal in die Schlagzeilen gekommen waren. An jeden einzelnen Namen konnte sie sich zwar nicht erinnern, aber sie sah die Gesichter ihrer Patienten immer noch vor sich und erinnerte sich an kleinste Einzelheiten, die sie von ihnen in Erfahrung gebracht hatte.
Die Schornsteine auf dem Dach des alten Gebäudes waren mittlerweile verwaist und kalt, das Krematorium war schon seit Jahren stillgelegt. Die Straßen in Windsor Farms waren von Reifenspuren zerfurcht und versanken im Schneematsch, der am Abend überfrieren würde. Vorsichtig fuhr sie die Dover Road hinunter in das neue Viertel, in dem sie wohnte. Roy, der Wächter im Wachhäuschen, winkte sie durch, wie immer erfreut, sie zu sehen, denn sie schätzte seine Arbeit und gab es ihm immer wieder zu verstehen. Sie wußte, welche Gefahren jenseits der schmiedeeisernen Umzäunung und der Backsteinmauern lauerten. Sicher viel öfter, als sie es sich vorstellte, hatte Roy ihr zwielichtige Zeitgenossen vom Hals gehalten. Als sie Lucys alten grünen Kombi und die Autos ihrer Freunde in der Auffahrt stehen sah, stieg Freude in ihr auf. Miami war furchtbar gewesen, und Schnee rief bei Scarpetta manchmal Gefühle der Einsamkeit hervor. Der Gedanke an die muntere Gesellschaft jedoch hob ihre Stimmung.
Sie schloß die Haustür auf, ging in den Flur und stellte ihr Gepäck auf dem Dielenboden ab. »Wir sind hier!« rief Lucy.
»Willkommen zu Hause!«
»Vielen Dank, daß wir noch bleiben durften!«
Scarpetta folgte dem Klang der gutgelaunten Stimmen aus dem Wohnzimmer, wo die Frauen immer noch träge am Kamin saßen. Ihre Pistolen und anderen Waffen lagen nach wie vor offen herum. Decken, Kissen, Bierflaschen und Whiskygläser waren auf dem Teppich verstreut.
»Letzte Nacht haben wir alle hier geschlafen«, erklärte Lucy ihrer Tante.
»Das hört sich ja lustig an«, antwortete Scarpetta.
»Es war toll.«
»Daran waren nur die Plätzchen schuld.« »Probier mal, wo wir sie reingetunkt haben. Der Baileys war schuld.«
»Dr. Scarpetta, wir bringen hier alles wieder in Ordnung und sind auch schon so gut wie weg. Vielen Dank nochmals.«
»Wegen mir brauchen Sie jetzt nicht urplötzlich zu verschwinden«, sagte Scarpetta. »Es wird Glatteis geben, und es sieht so aus, als würde es bald wieder schneien. Von ihnen muß doch bestimmt keiner gleich wieder ans Steuer.«
Dabei dachte sie gar nicht an das Wetter.
»Heute waren wir ganz brav«, versicherte Lucy. »Nur Kaffee und Mineralwasser. Aber du hast ganz recht.« Sie schaute ihre Freundinnen an. »Ich finde auch, daß ihr nicht auf der Stelle zurückmüßt.«
Scarpetta warf einen Blick auf ihre Uhr. Es war kurz vor drei. Zeit genug, um ihren berühmten Eintopf zu kochen.
Scarpettas berühmter Eintopf
Conditio sine qua non ist ein Topf, der groß genug für ein Restaurant wäre und an die 20 Liter faßt. Meistens, so auch heute, benutzte Scarpetta zwei Töpfe gleichzeitig, weil ein Topf f ür die Menge von Zutaten nicht ausreichte. Das Fleisch war das Wichtigste; sie nahm Truthahnhackfleisch, ein in Würfel geschnittenes Filetstück, von dem alles Fett entfernt war, Kalbfleisch und Hähnchenbrust aus der Gefriertruhe. Sie legte das Fleisch zum Auftauen in die Mikrowelle. Anders als Marino beschleunigte sie diesen Prozeß nicht. Es gab noch genug anderes zu tun.
Trotz Lucys Protesten traten Pachelbel, Beethoven und Mozart an die Stelle von Annie Lenox und Meat Loaf. Scarpetta öffnete zwei Flaschen roten Tafelwein und begann Kühlschrank, Schränke und Speisekammer zu plündern; sie nahm alles heraus, was ihre Phantasie für brauchbar hielt. Wenn Sie dieses Rezept nachkochen wollen, ist es wichtig, daß Sie das Wesentliche von Scarpetta übernehmen. Alles Weitere ist Ihre Angelegenheit. Nehmen Sie einfach, was Sie gerade zur Hand haben, und machen Sie das Beste daraus. Aber was für jeden Mordprozeß gilt, gilt auch hier: Der Eintopf wird nur so gut, wie es das eingereichte Beweismaterial zuläßt. Wenn Sie mit Ihrer Zeit knausern oder mit den Zutaten, werden Sie genau das bekommen, was Sie kochen.
Es steht außer Frage, daß dieses
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