Kay Scarpetta bittet zu Tisch
Nudeln, denn Zeiten wie diese erfordern die Zubereitung eines Essens, das Scarpettas Energie, Gefühle und Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt. Bedächtig ging sie durch die Abteilung mit den Milchproukten und kaufte einen Karton großer Eier. Sie klappte den Deckel zurück und prüfte, ob keines zerbrochen war. Ein Ei war tatsächlich kaputt, so daß sie weitersuchte, bis sie mehr Glück hatte. Vorsichtig legte sie die Eierschachtel in ihren Einkaufswagen. Dann suchte sie ein Stück Parmesankäse aus.
Sie legte noch ein Kilo Mehl zu ihren Einkäufen und widmete sich daraufhin eine Weile der Naturkostabteilung. Hier sprachen die Leute spanisch und portugiesisch. Viele kauften Bananen, Ananas, Papayas, Limonen, Lauch, grünen Chili und
Gewürze. Scarpetta wollte Knoblauch, Brokkoli, Schalotten, Spargel, Karotten, Basilikum und Zucchtni. Sie hätte auch noch Sauerrahm oder Fleisch, vielleicht auch Hühnchen oder Schinken brauchen können, aber ein üppiges, kalorienreiches Abendessen hätte die Sturmwolken in ihrem Inneren nur noch weiter verdunkelt. Obwohl sie derzeit keine Neigung verspürte, ihrer Mutter etwas Gutes zu tun, dachte sie an das Klopapier. Zu guter Letzt kaufte sie einen Sechserpack Buckler alkoholfreies Bier. Ihr war bewußt, daß Scotch, Irish Whiskey oder Wein sie bedrückt oder wortkarg machen würde.
Auf dem Heimweg fuhr sie lange Zeit in der West Flagler Street hinter einem roten Plymouth Horizon, dessen Nummernschild an einem abgebrochenen Kleiderbügel baumelte. Ein Seitenfenster war mit einem Stück Karton zugeklebt. Das Auto war ganz offensichtlich gestohlen - wie so viele in Miami. Scarpetta hätte sich gerne von ihm ferngehalten, doch das ließ der Verkehr nicht zu. Ein Mercedes mit violett getönten Scheiben fuhr an der nächsten Ampel beinahe auf ihren Wagen auf, und ein Porsche jagte hinter einem Jeep her. Beide Fahrer machten obszöne Gesten und schrien sich in fremden Sprachen an. Die Sonne blendete Scarpetta.
Ihre Mutter wohnte im Südwesten der Stadt, nicht weit von der Our-Lady-of-Lourdes-Academy, wo Scarpetta die Schule besucht und die Nonnen beeindruckt hatte. Sie erreichte das Haus ohne Zwischenfall und stieg aus dem Auto. Seit ihr der Umweltschutz am Herzen lag, benutzte sie keine Plastiktüten mehr. Nun knisterten die Papiertüten, als sie ihre Einkäufe durch die Eingangstüre trug. Sofort bemerkte sie, daß die Alarmanlage nicht eingeschaltet war.
»Mutter!« schrie sie, nicht zum ersten Mal an diesem Tag. »Du solltest doch die Alarmanlage nicht ausschalten!«
»Du machst dir immer zu viele Sorgen«, kam die Antwort a us dem Schlafzimmer. »Ich habe gerade ein Schläfchen gehalten. Warum mußt du immer so rumnörgeln?«
»Hausfriedensbruch, Einbrüche, Vergewaltigungen. Das alles passiert nicht erst, wenn's dunkel ist.«
Scarpetta ging an dem alten Baldwin-Klavier vorbei, auf dem ihre Mutter nicht mehr gespielt hatte, seit es zum letzten Mal gestimmt worden war - und das mußte eine Ewigkeit her sein. Ein Licht brannte, aber das half auch nicht viel, weil ihre Mutter die Vorhänge immer geschlossen hielt. Die Wanduhr tickte laut und vernehmlich. Der blaßblaue Teppich war abgelaufen und vom Schmutz der Jahrzehnte nachgedunkelt. Kleine Porzellanfigürchen waren strategisch geschickt aufgestellt. Seit Scarpettas Kindheit hatte sich kaum etwas verändert.
Diese Jahre waren schmerzlich und unheimlich gewesen, und immer, wenn sie nach Hause kam, legte sich der Schatten der Vergangenheit wieder über sie. Ihr Vater hatte fünf Jahre an Leukämie gelitten, bevor er im hinteren Schlafzimmer gestorben war, in dem ihre Mutter jetzt die Kleiderbügel hin und her schob. Scarpetta hatte gelernt, sich das Äußerste abzuverlangen, denn es war schwierig, Freunde zu finden, wenn man intelligent, sensibel und durch einen schweren Verlust etwas aus der Fassung geraten war. Schon früh hatte sie damit angefangen, zu kochen, zu putzen und sich um die Finanzen zu kümmern, während ihre Schwester mehr mit sich selbst beschäftigt war, Gedichte und Geschichten schrieb und sich mehr für Jungs interessierte.
Scarpetta stellte die Tüten auf der Arbeitsplatte neben der Spüle ab und packte die Einkäufe aus. Sie wusch das Gemüse, schälte und schnipselte es. Eine Stunde später spielte man Bach auf dem Klassiksender, den sie immer einstellte, wenn sie zu Hause war, und eine Kugel Eiernudelteig ruhte friedlich in einer Schüssel. Ein Topf mit Wasser stand auf dem Herd bereit, und e ine
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