Kay Susan
zweifellos nicht der einzige Anreiz für sie, meine Tyrannei zu ertragen. Es mußte Angst sein, die sie bewegte, meinen Anweisungen so rasch und bereitwillig zu befolgen, Angst und schiere finanzielle Abhängigkeit. Ich war nicht so dumm zu glauben, es könne je etwas anderes sein.
Der Bau des Opernhauses verschlang mein ganzes Leben. Vor Morgengrauen traf ich auf der Baustelle ein und verließ sie selten vor Mitternacht, und mit den Jahren fiel es mir immer schwerer, sie überhaupt zu verlassen. Wenn harte Winter im Januar und Februar die Einstellung der Steinmetzarbeiten erzwangen, weil Frost herrschte, streifte ich weiterhin wie eine verlorene Seele durch den wachsenden Bau. Oft verschwand ich in den Gewölben des Theaters, um seltsame Veränderungen vorzunehmen, deren Zweck ich kaum mir selbst erklären konnte. Geheimgänge, von denen nie jemand zu wissen brauchte, unsichtbare Falltüren – es war mir eine intensive Befriedigung, diesem Bauwerk meinen unsichtbaren Stempel aufzudrücken. Vielleicht war mein gestörter Geist darauf fixiert. Es schien keine andere Erklärung zu geben für etwas, das sogar in meinen Augen ein überaus verschrobenes Verhalten war.
Mein Leben war in Metern ausgemessen, und jeder Meter war ein seelischer Markstein, das Gefühl, etwas geleistet zu haben, während ich dieses ehrfurchterregende Mausoleum in den Himmel wachsen sah. Monolithische Schäfte aus Raviere-Kalkstein für die Säulen der Hauptfassade; sechzehn Säulen aus rotem Jura-Gestein; zwölf aus rosa Granit; dreißig aus Sarrancolin-Marmor. Endlos waren die Wunder, die ich mit meinen Fingern berühren konnte, und jede Nacht wanderte ich durch das Gebäude wie der Schah durch seinen Harem, teilte mit achtsamer Unparteilichkeit meine Liebkosungen aus, damit nicht eine liebliche Säule eifersüchtig wurde oder sich vernachlässigt fühlte. Ich war gesättigt mit Schönheit, befriedigt von Exzessen, die meine wildesten Träume überstiegen. Der Anblick der riesigen korinthischen Säulen, die die Bögen der Kuppel des Zuschauerraums trugen, gab mir das Gefühl, ein Druidenpriester in Stonehenge zu sein.
Garnier dagegen mußte sich inzwischen fühlen wie das Opferlamm auf dem Block. Jahr um Jahr wurde mein Mitleid mit diesem Mann stärker, als er persönliche Tragödien durchzustehen hatte. Sein einziges Kind starb, kurz darauf sein Vater – und er kämpfte dennoch wie ein Löwe für die Integrität seines Traums. Zweimal nacheinander strich die Regierung eine Million Francs aus dem Budget der Oper; im März 1867 war das Projekt mit fünfhunderttausend Francs verschuldet – Garnier mit seiner Weisheit am Ende.
»Sie hatten recht«, sagte er eines Abends verzweifelt zu mir. »Sie hatten recht mit allem, was Sie vorhergesagt haben. Ich hätte eine Ausbildung als Gladiator haben sollen, nicht als Architekt. Ich nehme an, Sie haben nicht zufällig zwei Millionen Francs bei sich, Erik?«
Ich lachte und nahm die Taschenflasche mit Cognac, die er mir anbot, nicht die erste, die er heute abend geleert hatte, so wie er aussah, der arme Teufel.
»Wenn ich sie hätte, würde ich sie Ihnen gern geben«, sagte ich. »Ja, ich weiß«, seufzte er und schraubte mit unsicheren Fingern den Verschluß auf die Flasche. »Warum sind Sie nicht der Kaiser, Erik? Warum, zum Teufel, sind Sie nicht der Kaiser?«
Ich kann nur vermuten, daß er zu betrunken war, um zu wissen, was er tat, als ich ihn aus dem dunklen und stillen Bau führte, damit er sich nicht in dem gefährlichen Bauschutt den Hals brach. Plötzlich schlang er mit rauher Kameraderie einen Arm um meine Schulter.
»Wenn man Sie jemals zum Kaiser macht«, sagte er heftig, »dann bin ich der erste, der auf die Straße läuft und seinen verdammten Hut in die Luft wirft.«
Ich besorgte ihm eine Droschke, da er offensichtlich viel zu betrunken war, um allein heil nach Hause zu gelangen. Er preßte einen Augenblick lang fest meine Hand in seiner, ehe er einstieg und auf dem Sitz zusammensank.
Er war sehr betrunken in jener Nacht. Ich bezweifelte, daß er sich je an das erinnerte, was er damals gesagt hatte, ganz zu schweigen davon, wer ihn in diese Droschke gesetzt hatte.
Ein vorsichtiger Respekt war im Laufe der Jahre zwischen uns entstanden und verhinderte den Zusammenprall unserer unsteten Persönlichkeiten, der auf den ersten Blick unvermeidlich schien. Garnier konnte spektakuläre Wutanfälle haben, wenn er sich erregte, und die Zurückhaltung, die ihm gegenüber einigen Narren
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