Kay Susan
explodierten in meinem Kopf wie ein Pulverfaß; binnen einer Sekunde hatte ich ihn am Hals gepackt, und wir standen gefährlich nahe am Rand des Gerüsts.
»Was soll das heißen«, herrschte ich ihn an. »Sie haben mir Ihr Wort gegeben, daß ich diese Arbeit vollenden kann. Wenn Sie mir das jetzt verweigern, werden Sie es nicht überleben, das verspreche ich Ihnen.«
Ich schleuderte ihn auf die Gerüstplanken, und dort blieb er einen Augenblick liegen, vorsichtig seinen Hals befühlend.
»Es gibt keinen Grund, so wütend zu werden«, sagte er ruhig. »Ich versichere Ihnen, mit mir hat das überhaupt nichts zu tun.«
»Was dann?« fragte ich grob. »Erklären Sie es mir.«
Er seufzte, richtete sich zu einer hockenden Stellung auf und klopfte den weißen Staub von seinen schwarzen Hosen.
»Ich nehme an, Sie wissen, daß wir uns im Krieg mit Preußen befinden?«
»Natürlich weiß ich das, Sie Dummkopf. Wer wüßte es nicht?«
Er zuckte leicht die Achseln. »Manchmal habe ich das Gefühl, daß Sie nicht in derselben Welt leben wie wir anderen. Ganz Paris redet davon, daß der Kaiser sich gestern in Sedan ergeben hat. Die öffentliche Wut über seine Niederlage ist fast nicht mehr zu beherrschen. Die Straßen sind voller Menschen, die schreien: Nieder mit dem Kaiser!’ Hören Sie nicht den Aufruhr da draußen? Es heißt, binnen vierundzwanzig Stunden kommt es zu einer Revolution.«
»Der Kaiser war ein sehr kranker Mann«, sagte ich düster. »Was mußten sie ihn auch in den Krieg schicken. Er konnte ja kaum auf einem Pferd sitzen.«
Garnier sah mich überrascht an.
»Sie müssen der einzige Mensch in Frankreich sein, der sich jetzt noch daran erinnert. Heute gibt es auf den Straßen kein Mitleid mehr.«
»Das gibt es nie«, sagte ich abrupt und wandte mich wieder meiner Arbeit zu.
»Man sagt, die deutsche Armee bereite den Marsch auf Paris vor. Wissen Sie, was eine Belagerung bedeuten würde?«
»Eine Menge Kinder werden verhungern«, sagte ich finster. Es waren immer die Kinder, die litten, die Kinder und die Tiere.
»Ja, ja«, sagte Garnier mit einem Anflug von Ungeduld, »aber haben Sie auch daran gedacht, was es für uns bedeuten würde, für die Oper? Der Bau entsteht im Auftrag der Regierung und wird wegen der Kriegsanstrengungen sofort unterbrochen. Alle öffentlichen Arbeiten werden eingestellt, und zwar auf unbestimmte Zeit. Gott weiß, wann wir wieder werden arbeiten können oder ob der Bau die deutschen Granaten überhaupt überleben wird. Erik, verstehen Sie, was ich sage?«
Ich verstand.
Ich verstand, daß Menschen, grobe, dumme, hirnlose Menschen, im Begriff waren, mir meine geheiligte Aufgabe zu nehmen. Paris würde von Bismarcks großer deutscher Kriegsmaschine mit Granaten belegt werden, und neun Jahre unablässiger Arbeit würden vielleicht in ebensovielen Sekunden zerstört.
Ich nahm die Maske auf und stieg in steinernem Schweigen vom Gerüst.
»Erik . . . «, rief Garnier besorgt und schaute im trüben Licht meiner Laterne hinter mir her. »Wo gehen Sie hin?«
»So weit von den Menschen weg wie möglich!« antwortete ich böse.
Für mich gab es jetzt nur einen Weg, und der führte nach unten, hinunter in die bodenlosen dunklen Abgründe, in die niemand hinabstieg, die endlosen steinernen Treppen hinunter in das fünfte Untergeschoß, in mein geheimes Versteck jenseits des Sees.
Als der große Stein sich hinter mir zuschob und mich in den höhlenartigen Raum der doppelten Wand des Fundaments einschloß, kam mir beim Licht einer Kerze eine verblüffende Erkenntnis. Ich merkte plötzlich, daß ich mein ganzes Leben lang nach einem Platz gesucht hatte, wo ich Frieden finden würde und vor neugierigen Augen sicher wäre.
Einst hatte ich einen solchen Platz besessen – in diesem ersten Jahr, das ich in Giovannis Keller verbracht hatte, geborgen wie ein junges Tier in seinem Nest. Damals hatte ich eine Sicherheit und ein Glück gekannt, die ich nie wieder gefunden hatte, ganz gleich, wohin ich gewandert war. Solange Giovanni da oben über mir war wie Gott in seinem Himmel, wußte ich, daß ich sicher war. In meinem Herzen war er immer mein »Vater«, immer, bis zu jenem Tag, an dem diese Luciana kam und mein Leben in Stücke schlug.
Mit verzweifelter Sehnsucht erinnerte ich mich an diesen Keller. Sicher könnte ich dieses Gefühl des Wohlbefindens und der Zufriedenheit wiederfinden, wenn ich die Umgebung neu erschaffen könnte, in der ich diese fremden und schwer faßbaren Empfindungen zum ersten Mal
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