Kay Susan
erlebt hatte. Wenn ich mir ein eigenes Nest schuf, tief unter den Pariser Straßen, würde mich nie wieder jemand finden. Es gäbe kein Gekicher mehr, keine bösen Rufe, keine Steinwürfe und keine gezückten Messer . . .
Niemand würde da sein, niemand!
Ja, das war die wahre Erleuchtung! Die plötzliche Erkenntnis, daß ich keine Menschen mehr wollte, daß ich es müde war, in einer Welt um meine Existenz zu kämpfen, der ich doch nie angehören konnte. Den größten Teil meiner vierzig Jahre hatte ich damit zugebracht, mir den Kopf an den Mauern der Wirklichkeit blutig zu stoßen, betäubt von meinem Versagen. Was für ein Narr ich gewesen war, obwohl die Antwort die ganze Zeit existiert hatte.
Ein ruhiger, dunkler Platz wartete darauf, mich aufzunehmen. Alles, was ich tun mußte, war das, was jede vorsichtige Spinne tat – ; ich mußte mich an einen sicheren Ort flüchten und dort bleiben.
Ich zündete weitere Kerzen an und begann mich umzusehen, aufgeregt wie ein Kind.
Mein Haus würde eine ungewöhnliche Form haben, aber es würde so weit in jede Richtung reichen, wie ich wollte; ein Raum führte zum anderen. In diesem Augenblick visionärer Vorausschau sah ich alles, jedes kleinste Detail, von der herrlichen Orgel, die an der Wand meines Schlafzimmers stehen würde, bis zu dem mit einem Baldachin überdachten offenen Sarg, in dem ich künftig zu schlafen gedachte.
Der Sarg war notwendig, weil Garnier ganz recht gehabt hatte: Dieser Ort war mein erwähltes Grabmal, ein Monument meines verrückten Genies. Die Pariser Oper war eine prachtvoll verkleidete Pyramide und ich der Pharao, der tief in ihrem Inneren in der geheimen Glorie seines Nachlebens lag.
Der Traum erlosch wie eine heruntergebrannte Kerze, und ich stand wieder in einem finsteren, feuchten Loch. Aber ich hatte die endgültige, alles entscheidende Vision gehabt. Ich war noch Monate, ja sogar Jahre von ihr entfernt, doch nichts, nicht einmal die Macht der preußischen Armee, würde mich daran hindern, sie zu verwirklichen.
Das phantastischste Haus dieser Erde würde von jeder Vorrichtung beschützt werden, die sich mein Magierhirn nur ausdenken konnte.
Nie wieder würde ich über der Erde schlafen.
5. Kapitel
Hätte ich damals diese Entscheidung nicht getroffen, so wäre ich in der ersten Woche der Belagerung verhaftet worden, als die Stadt von einer hysterischen Angst vor Spionen erfaßt wurde. Jeder, der sich in Kleidung oder Auftreten auch nur im geringsten von seinen Mitmenschen unterschied, wurde bei den neuen republikanischen Behörden als des Verrats verdächtig denunziert. Taube und Stumme wurden gnadenlos gejagt, und selbst ein Stottern reichte aus, um die gehässige Verfolgung durch einen wütenden Mob zu rechtfertigen.
Die Hysterie verging, man faßte wieder Mut, und Paris freute sich am neuen Reiz einer Belagerung, von der niemand annahm, daß sie lange dauern würde. Die Besichtigung der Befestigungsanlagen wurde zu einem angenehmen Familienausflug an Sonntagnachmittagen. Während die Regimenter exerzierten, waren die Bänke auf den Champs-Elysées voll mit plaudernden Menschen, die sich sonnten. Gitarren und Drehorgeln erklangen, Karussells drehten sich fröhlich. Durch Operngläser beobachteten die Menschen die Preußischen Batterien in Meudon, und die gelegentlichen Rauchwolken der Kanonenboote auf der Seine wurden mit unbekümmertem Spott abgetan.
Jeder lebte in der Überzeugung, daß Paris unbesiegbar war. Mit ihrer Umfassungsmauer, ihrem zehn Fuß tiefen Graben und ihren Befestigungen, die einen Kreis von vierzig Meilen umschlossen, trotzte die Stadt jeder belagernden Armee. Und die neue Regierung war nicht müßig gewesen. Die Katakomben hatte man verschlossen, raffinierte Barrikaden waren über die Seine gebaut worden, elektrisch zündbare Landminen lagen an Schwachstellen. Paris war vorbereitet, sich dem Schlimmsten zu stellen, das Moltkes riesige Armee zu bieten hatte. Die Zeitungen sagten voraus, die Preußen würden bald gedemütigt nach Hause schleichen.
Vier Monate später, als schließlich der Beschuß begann, war die Stadt schon durch einen harten Winter mit wachsenden Entbehrungen geschwächt. Die Temperatur war auf zwölf Grad unter Null gesunken. Männer, die auf Außenposten Dienst taten, erfroren, der Vorrat der Stadt an Brennholz war erschöpft, und die Menschen kämpften um Bäume, fällten Telegraphenmasten und drohten, die Nationalgarde zu überfallen, die vor einem Holzlager in der Rue des Belles-Feuilles
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