Kay Susan
in der Regierung gelang, setzte mich immer wieder in Erstaunen.
Wir gingen überraschend langmütig miteinander um, so als wüßten wir beide, was es bedeutet, einen unablässig und schmerzhaft wachen Geist zu haben. Wir hatten den gleichen Drang zur Perfektion und eine ständige gärende Phantasie. Daher war ich an diesem dritten Abend im September 1870, als er in die Oper kam und mich allein und ohne Maske bei der Arbeit antraf, seltsam ruhig und gleichgültig seiner Entdeckung gegenüber, die mich normalerweise gedemütigt und mit Zorn erfüllt hätte.
Schockiert sah er mich an, aber er hatte den Anstand, nicht zu starren, und ich glaubte, ihm diesen ersten Augenblick gelähmten Staunens verzeihen zu können. Um ganz ehrlich zu sein, er selbst war auch nicht gerade schön. Mehr als einmal hatte ich recht unfreundliche Karikaturen seiner ausgeprägten Physiognomie in der populären Presse gesehen – ein eckiges Gesicht, verwüstet von Sorgen- und Krankheitsfalten, tiefliegende Augen unter einer eigenartig abgeflachten Schädeldecke. Vielleicht half es, daß er häßlich war: vielleicht war ich einfach zu erschöpft, um gewalttätig zu reagieren, aber ich empfand jedenfalls nicht das Bedürfnis, ihn wegen seines Frevels umzubringen.
Ruhig kam er über das Gerüst, das die Kuppelstruktur des inneren Zuschauerraums umgab, und betrachtete zustimmend die Stelle, an der ich arbeitete.
»Ich weiß nicht, wie Sie in dieser Düsternis sehen können«, bemerkte er freundlich. »Sie müssen die Augen einer Katze haben.«
Ich erwiderte nichts. Er war zum Diner gekleidet, und zweifellos saß Louise, seine Frau, in diesem Augenblick ungeduldig in ihrer Kutsche. Gewiß würde er sich jetzt nicht länger aufhalten.
»Ich baue ein Opernhaus«, sagte er ruhig. »Sie aber, mein Freund, scheinen entschlossen, es in ein Grabmal zu verwandeln.«
Ich drehte mich um und sah ihn überrascht an. Mit einer ausdrucksvollen Geste breitete er die Hände aus.
»Ihre Männer sagen, Sie arbeiteten sich zu Tode.«
Ich lachte rauh. »Sie meinen, die Männer hoffen, daß ich mich zu Tode arbeite.«
Langsam schüttelte er den Kopf.
»Dieser Bernard ist sehr ängstlich. Er bat mich heute morgen, mit Ihnen zu sprechen, weil er es selbst nicht wagt.«
Jules? Ich runzelte die Stirn, als ich über diese unerwartete Nachricht nachdachte. Der Mann hatte inzwischen sieben Kinder zu füttern und großzuziehen. Madame Bernard schien jedesmal schwanger zu werden, wenn ihr Mann nur seine Hosen am Bettpfosten aufhängte. Als ich das bedachte, erschien es mir ganz natürlich, daß der Mann um die Quelle seines Lebensunterhalts besorgt war. Gewiß hatte er nicht gewagt, Garnier von dem Morphium zu erzählen.
»Zwanzig Stunden am Tag«, fuhr Garnier langsam fort. »Haben Sie kein Zuhause, wohin sie gehen können, Erik?«
Noch immer schwieg ich und dachte an das Dutzend Wohnungen, das Jules für mich gemietet hatte, seit ich an der Oper arbeitete. Jedesmal war es ähnlich verlaufen. Zuerst die anonymen, beleidigenden Briefe, dann willkürliche, unprovozierte Beschädigungen und schließlich das aggressive Pochen oder nervöse Klopfen des Eigentümers an meiner Tür.
»Bitte, versuchen Sie zu verstehen, Monsieur, die anderen Mieter fangen an, sich zu beschweren . . . «
Ich argumentierte oder protestierte nie, sondern zog einfach mit müder Resignation aus, ehe die Gewalttaten einsetzten. Ich sah schon, daß es keinen Sinn hatte, bei den stark inflationären Preisen einen Besitz zu kaufen; das würde meine schwierige Lage nicht lösen, und außerdem mußte ich mit meinen Mitteln sparsam umgehen. Meine finanziellen Verpflichtungen waren beträchtlich, und mein Kapital schwand rapide dahin. Ich war nicht mehr der immens reiche Mann, der ich vor zehn Jahren gewesen war: Die Oper und Jules’ rasch wachsende Schar hungriger, unwissender kleiner Karnickel hatten dafür gesorgt.
Jedesmal, wenn ich aus einer Wohnung vertrieben wurde, lag die nächste in einem etwas weniger eleganten, etwas weniger achtbaren Viertel, bis ich mich wieder einmal am Stadtrand unter den Armen befand. Daraufhin hatte ich angefangen, mehr und mehr Stunden in der Oper zu arbeiten, da ich den Moment der Rückkehr in diese schmutzigen, gefährlichen Straßen fürchtete.
»Die Oper ist mein Zuhause«, bemerkte ich mit einer Beiläufigkeit, die die düstere Wahrheit meiner Aussage nicht ganz verbergen konnte.
»Nicht mehr lange, fürchte ich«, sagte er.
Neun Jahre der Selbstbeherrschung
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