Kay Susan
ein unzeitiges Ende finden. Für mich selbst spielte das keine große Rolle, ich hatte jetzt genug, um bequem zu leben. Aber Jules hatte zwei Söhne auf der Kunstakademie, einen Sohn auf der medizinischen Fakultät und sechs weitere Kinder, deren Zukunft berücksichtigt werden mußte. Ich hatte nicht die Absicht, meine Verpflichtung einem Mann gegenüber aufzugeben, den ich ohne böse Absicht zerstört hatte.
Ich würde mich also an Poligny heranmachen müssen, dafür sorgen, daß er die Pachtbedingungen der Oper weitergab, ehe er seine Verluste abschrieb und floh. Ein letztesmal noch mußte ich ihn in unsägliche Angst versetzen.
Eine kurze Nachricht, auf seinem Schreibtisch abgelegt, würde ihn zitternd in Loge Fünf treiben, um sich die Abendvorstellung anzusehen. Meine Stimme würde den Rest besorgen.
Wir hatten diese kleine Farce nun schon viele Male durchgespielt. Nichts amüsierte mich mehr als die ehrfürchtige Art, in der Poligny sich dem Sessel näherte, aus dem er meine Stimme zu hören glaubte, und der ernste, ängstliche Ausdruck auf seinem fetten Gesicht, während er sich nervös mit der Luft unterhielt. Ich war in der riesigen, marmorverkleideten Säule versteckt, die ich ganz nach Wunsch anheben und senken konnte, und genau das mußte ich manchmal tun, um nicht laut aufzulachen angesichts der absurden Servilität seiner Gesten. Er hätte mir kaum mehr Respekt erweisen können, es sei denn, er wäre auf Hände und Knie niedergefallen. Tatsächlich war er mein Lieblingsopfer, voll von theatralischem Aberglauben und unerhört leichtgläubig. Es erstaunte mich wirklich, daß ein so naiver Mensch Gewohnheiten haben konnte, die das Licht der Öffentlichkeit zu scheuen hatten, aber da war er – ein fetter, dummer Fisch, der hilflos an meiner Angel zappelte. Er hatte meine Existenz über alle Maßen komfortabel gemacht, und ich würde ihn sehr vermissen.
Wir sollten noch einen letzten, gemütlichen Schwatz abhalten, bevor ich au revoir sagte.
Ich erreichte Loge Fünf früh am Morgen, lange bevor irgend jemand in der Nähe war. Eine lange, unbequeme Wartezeit in dieser hohlen Säule lag vor mir, und da ich keine Lust hatte, meine Stellung dort früher zu beziehen als unbedingt notwendig, setzte ich mich im Hintergrund der Loge in den Schatten und las Madame Bovary. Es heißt, Flaubert sei zum Einsiedler geworden, um zu schreiben; das fand ich interessant.
Zwei Stunden später, ich hatte den Roman ausgelesen, wandte ich mich gelangweilt der Lektüre des gestrigen Programms zu, das meine teure Madame Giry auf dem kleinen Regal pflichtschuldig zu meinem Gebrauch hinterlassen hatte.
Meyerbeer. Gott sei Dank hatte ich mir seit Wochen nicht die Mühe gemacht, mir eine Vorstellung anzusehen. Wenn ich je ein mittelmäßiges Talent gesehen habe, dann war er das, ein Mann, der glaubte, spektakuläre Bühneneffekte würden die Mediokrität seiner Musik kompensieren. Mozart wußte wenigstens, daß Musik für sich selbst sprechen muß. Don Giovanni, ja, das war wirklich denkwürdig; und die Zauberflöte – wunderlich, bezaubernd, amüsant. Obwohl wir natürlich im Augenblick keine Sängerin hatten, die der Rolle der Königin der Nacht gewachsen war. Einen Sopran, der nicht wie das Pfeifen eines schwachsinnigen Erdnußverkäufers klang, mußte ich erst noch hören. Zum Glück war es eine Rolle, die außerhalb des Repertoires von La Carlotta lag. Die Stimme dieser Frau ließ mich wirklich eiskalt. Welch ein Jammer, daß unsere gegenwärtige Primadonna nie den Drang verspürte, in ihr heimatliches Spanien zurückzukehren.
Mit einer verächtlichen Bewegung warf ich das Programm beiseite und schaute seufzend auf meine Taschenuhr. Sieben Uhr morgens. Im Gebäude war die Zeit nicht mehr erkennbar.
Als ich aufstand, gingen unerwartet die neuen elektrischen Lampen im Zuschauerraum an, und wütend wich ich hinter die Portieren zurück. Verdammt. Wer war das jetzt? Dem hellen Lachen nach handelte es sich nicht um Bühnenarbeiter.
Zweifellos waren es alberne, kichernde Ballettratten, Tänzerinnen, die den endlosen Proben im Ballettsaal hinter der Bühne entronnen waren. Normalerweise hätte ich mir einen kleinen, gutmütigen Spaß auf ihre Kosten erlaubt und ihnen eine neue Geschichte beschert, um ihre großäugigen Kolleginnen damit zu erschrecken, aber heute war mir nicht nach närrischen Späßen zumute. Ich fühlte mich seltsam müde und unpäßlich.
Im Orchestergraben wurde ein Ton angeschlagen.
»Meg!« sagte die
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