Kay Susan
singen, und ich sprang auf, als hätte ich einen elektrischen Schlag erhalten.
Oh, ihr Gesang war schmerzhaft, unerträglich schmerzhaft, aber ich hatte dennoch nicht das Verlangen, mir die Ohren zuzuhalten!
Perfekte Stimmlage, kristallklare Intonierung, in keiner Tonlage Schwächen. Dieses Mädchen besaß ein nahezu vollkommenes Instrument!
Und ihr fehlte der innere Wille, darauf zu spielen.
Noch nie hatte ich eine so süße und aufrichtige, aber gleichzeitig in höchstem Maße negative Stimme gehört. Ihr ungeheures Potential wurde fast überhaupt nicht eingesetzt. Sie hatte nichts außer einer fehlerlosen Technik. Sie sang ohne Seele.
Irgend etwas stimmte mit diesem Mädchen ganz und gar nicht. Ich konnte es nicht ertragen, auch nur einen Augenblick länger zuzuhören. Ich durfte nicht daran denken, was ich aus dieser lieblichen, aber leblosen Stimme hätte machen können, wenn sie meiner Obhut anvertraut worden wäre.
Doch zuerst mußte ich sehen, wie sie aussah. Ich mußte es wissen, damit ich sorgfältig vermeiden konnte, sie durch irgendeinen schrecklichen Zufall noch einmal zu hören. Ein zweiter Anlaß wie dieser würde mich um den Verstand bringen!
Ich vergaß meine normale Vorsicht, trat aus dem Schatten an die samtverhangene Brüstung der Loge und schaute nach unten. Ich schaute hinaus in das helle Licht der neuen elektrischen Birnen im Zuschauerraum.
Und das Messer, das ich in all diesen Monaten vage gefürchtet hatte, grub sich bis zum Heft in meinen Hals.
Ihr Name war mir fremd, ich kannte ihn nicht.
Aber sie war keine Fremde für mich.
Ich kannte dieses Mädchen.
Das hufeisenförmige Auditorium unter mir lag jetzt wieder dunkel und still; das Licht war längst ausgeschaltet worden.
Lange blieb ich zusammengesunken im Sessel der Loge Fünf sitzen. Die Gefahr, entdeckt zu werden, war mir gleichgültig.
Es mußte eine Halluzination gewesen sein, eine optische Täuschung, erzeugt durch die Lampen und meinen verwirrten Geist. Allmählich ruinierte das Morphium mein Gehirn, zog mich hinunter in einen Morast aus unzusammenhängenden, unmöglichen Träumen.
Und doch wußte ich, was ich gesehen hatte.
Ich konnte jetzt nicht auf Poligny warten. Mit ihm würde ich mich an einem anderen Tag befassen, wenn ich meinen Verstand beisammen hatte. Ich mußte diesen Ort rasch verlassen, mich wieder in meiner sicheren Zuflucht verkriechen, mich verstecken wie ein tödlich verwundetes Tier.
Zu keiner Zeit während meines ganzen Aufenthalts in der Oper war die Gefahr meiner Entdeckung so groß wie bei dieser verzweifelten Flucht nach unten. Ich rannte durch die Korridore. Ich gab mir keine Mühe, mich verborgen zu halten. Ich wußte nicht, wer mich möglicherweise beobachten würde, und es war mir auch gleichgültig. Meine linke Hand war so taub, daß die Zapfen des Steins im dritten Keller meinem Druck nicht gleich gehorchten. Mit einem Wutschrei krallte ich mich an dem Mechanismus fest. Meine Finger bluteten, als der Stein endlich nachgab und mich in das hinter ihm liegende Heiligtum einließ.
Ich schwor, nie wieder die Oberfläche der Erde zu betreten. Ich würde hierbleiben wie ein Einsiedlerkrebs in seinem Panzer und mich in meine Musik versenken. Irgendwo im Labyrinth meines Geistes würde ich ein Grab finden, tief genug, um die schmachvolle Sehnsucht darin einzumauern. Wenn das schnell genug geschah, würde ich dem Schmerz entrinnen können – dem unvorstellbaren Schmerz.
Ayesha sprang von der Orgel, um mich zu begrüßen, aber die Wärme dieses weichen, glatten kleinen Körpers brachte mir jetzt keinen Trost.
Wie ein Haus ohne Fundament, das der ersten Erschütterung eines Erdbebens nicht standhalten kann, war meine ganze Existenz zu Ruinen zusammengestürzt.
Ich war besessen von Christine Daae, rettungslos an den leidenschaftlichen Wunsch gefesselt, etwas zu besitzen, was ich niemals haben konnte. Es war, als hätte ich fast ein halbes Jahrhundert lang geschlummert und sei nun aufgewacht, um die Verheerungen schieren, animalischen Hungers zu erleben.
Ich versuchte, Abstand zu gewinnen, mich spöttisch und gleichgültig über meine Schwäche lustig zu machen, mir zu sagen, es sei unanständig, in meinem Alter die liebeskranke Sehnsucht eines unreifen Jünglings zu empfinden. Meine Lust war obszön. Ich mußte sie aus meinem verhaßten Körper herauspeitschen.
Gnadenlos bestrafte ich mich selbst für die Verderbtheit meines Verlangens. Ich stellte einen Spiegel auf und zwang mich, ohne Maske hineinzusehen.
Weitere Kostenlose Bücher