Kay Susan
ziemlich traurig. Himmel, wie konnte ein Mann, der von Natur aus so gut und freundlich war wie Nadir, so weit sinken, daß er seine Zeit freiwillig in Gesellschaft eines halb verrückten Ungeheuers verbrachte? Warum ließ er mich nicht einfach verhaften?
Die stillen Wasser der Resignation umgaben mich nun seit mehr als sechs Jahren; durch seine Gegenwart wurden sie unablässig aufgewühlt. Ich hatte mich endlich mit der Realität abgefunden, und es war mir gelungen, mir eine nahezu ideale Existenz zu schaffen, in der ich ausleben konnte, was von meinem Leben und meiner dumpfen Gleichgültigkeit übriggeblieben war. Ich hatte meine Musik, meine Erfindungen, ein regelmäßiges Einkommen.
Ich war verdammt zufrieden!
Doch jetzt hatte ich auf einmal Angst.
Ich wollte nicht, daß Nadir in mein Leben zurückkehrte, ich wollte niemanden. Aber jede Woche freute ich mich, wenn ich ihn am anderen Seeufer warten sah, und innerlich erschrak ich sehr über diese Freude. Denn sie bedeutete, daß ich schließlich doch nicht wirklich gelernt hatte, ohne Menschen auszukommen. Wenn ich mir erst einmal eingestand, daß ich noch Gefühle haben konnte, wurde ich verwundbar. Ich war nicht mehr jung und vital und hatte die bemerkenswerte Fähigkeit zur Regeneration verloren. Ich konnte den Gedanken an weiteres Leid nicht ertragen.
Mein altes Interesse an Wahrsagerei hatte mich nie verlassen, und von Zeit zu Zeit zog ich planlos noch immer die Tarot-Karten zu Rate. Sie hatten schon lange nichts Bedeutsames mehr enthüllt, aber in letzter Zeit schien jedesmal, wenn ich eine beliebige Karte abhob, der Tod aufzutauchen.
Der Tod – oder die Liebenden.
Ich konnte diese rätselhafte Botschaft nicht deuten, aber ich hatte Angst – ohne zu wissen, wovor ich mich fürchtete.
Selbst wenn ich mit Nadir spazierenging, mit ihm sprach, wieder einmal die Wärme der direkten Verbindung zu einer menschlichen Seele spürte, gab es daher einen Teil von mir, der ihn mit aufmerksamem Argwohn betrachtete und sich fragte, welche Rolle das Schicksal ihm in dieser neuen, ungeprobten Oper zugewiesen hatte.
∗ ∗ ∗
»Sie sind heute sehr abwesend«, sagte Nadir streng. »Es gefällt mir nicht, wie Sie in den leeren Raum starren und vergessen, mir zu antworten. Und dauernd knicken Sie Ihre linke Hand ab. Sie versuchen doch nicht etwa, mich nervös zu machen, oder? Es würde nicht funktionieren, das wissen Sie.«
»Seien Sie nicht töricht«, sagte ich. »Meine Hand ist taub, das ist alles.«
»Das überrascht mich nicht«, murmelte er. »Dieser Ort ist kalt wie ein Grab. Ich sehe wirklich nicht ein, wieso wir nicht auf zivilisierte Weise in Ihrem Haus Kaffee trinken können. Ich finde das sehr unhöflich von Ihnen.«
Er hatte natürlich recht. Es war sehr ungastlich von mir, wirklich ungezogen. Aber mein Haus war mein Bollwerk gegen die Welt, und ich konnte mich nicht überwinden, die Abwehr aufzugeben. Wenn er meine Geheimnisse einmal kannte, wäre ich völlig der Gnade seiner guten Absichten ausgeliefert. Es wäre die totale Kapitulation, eine Art Gefangenschaft, die zu ertragen ich einfach nicht bereit war.
»Ich muß jetzt gehen«, sagte ich. Immer mußte ich gehen, wenn das Gespräch sich, wie es jedesmal geschah, der Lage meiner geheimen Zuflucht zuwandte. »Warten Sie nächste Woche nicht auf mich«, fügte ich hinzu.
»Warum?« fragte er sofort. »Worauf wollen Sie jetzt hinaus, Erik?«
»Die gegenwärtige Direktion gibt ihre Tätigkeit auf«, seufzte ich. »Ich denke, ich werde deshalb vielleicht eine Woche lang sehr beschäftigt sein.«
Er runzelte die Stirn. »Ich würde gern wissen, was Sie vorhaben.«
»Oh, nicht mehr als einen kleinen Willkommensbrief. Wissen Sie, ich finde es sehr kleinlich von Poligny und Debienne, den Geist einfach so aufzugeben.«
»Sie wollen doch hoffentlich nicht bei den Herren Richard und Moncharmin Ihre schändlichen Tricks fortführen«, seufzte er.
»Warum nicht? Bislang hat sich das Arrangement als sehr einträglich erwiesen.«
Abrupt wandte er sich ab. »Denken Sie daran, was immer Sie jetzt tun wollen: Ich werde Sie beobachten.«
»Das tun Sie die ganze Zeit«, erwiderte ich liebenswürdig. »Was für ein Jammer, daß Sie nie alles sehen.«
Für mich war dieser Wechsel der Direktion überaus unbequem. Ich konnte nicht sicher sein, daß Polignys Nachfolger sich als auch nur halb so leichtgläubig und gefügig erweisen würden wie er. Und sollten sie störrisch sein, dann konnten meine Bezüge sehr rasch
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