Kay Susan
nervöse Stimme eines Mädchens, »um Himmels willen, man wird dich hören, und dann gibt’s Schwierigkeiten. Du weißt, daß wir nicht hier sein dürfen.«
»Ach, sei doch nicht so feige, Christine Daae, niemand wird uns hören, außer vielleicht das Phantom.«
»Das was?«
»Das Phantom. Sag bloß nicht, du hast noch nie vom Operngeist gehört! Mein liebes Kind, in welchem Traum lebst du eigentlich! Jeder kennt doch das Phantom der Oper. Nein, lach nicht. Es ist wahr. Schau, siehst du dort, Loge Fünf im ersten Rang? Das ist seine. Sie gehört ihm schon immer, solange jemand zurückdenken kann. Karten für diese Loge werden nie verkauft, nicht einmal bei Galavorstellungen. Sie sagen, sonst würde schreckliches Unglück über das ganze Theater kommen.«
»Woher weißt du das alles, Meg Giry?«
»Das braucht dich nicht zu kümmern. Ich weiß es eben, das ist alles. Wir wissen viel über den Operngeist, Mama und ich, aber es ist gefährlich, hier darüber zu reden. Und zu deinem eigenen Besten solltest du mir lieber glauben. Er mag Leute nicht, die ihm den nötigen Respekt verweigern, und wenn er böse ist, passieren schreckliche Dinge.«
»Was für Dinge?« In der anderen Stimme hörte ich jetzt wirkliche Besorgnis.
»Entsetzliche Dinge!« sagte Meg fröhlich. »Wirklich entsetzlich. Der Boden in unserer Garderobe ist auf einmal voller Blut . . . «
Oben in Loge Fünf zwinkerte ich überrascht und amüsiert. Das war ganz neu. Die kleine Giry sollte lieber Schauerromane schreiben, statt im Gewand einer Wassernymphe über die Bühne zu hüpfen.
»Körperlose Hände kommen aus den Wänden und kriechen über die Bühne«, fuhr Meg genüßlich fort, »und Leute verschwinden einfach und tauchen nie wieder lebendig auf. Wie Joseph Bouquet . . . «
»Ich dachte, der arme alte Mann hätte sich aufgehängt.«
»Ja, das ist die Geschichte, die die Direktion verbreitet hat, um eine Panik zu verhindern. Jeder, der überhaupt etwas weiß, ist indes der Meinung, daß das Phantom das getan hat.«
Ich runzelte die Stirn, das gefiel mir nicht so gut. Die kleine Meg sollte lieber ihre lose Zunge im Zaum halten. Ich hatte ihre Beförderung zur Solotänzerin bewerkstelligt, das konnte ich leicht wieder rückgängig machen, wenn ich heute abend mit Poligny sprach.
»Natürlich ist das Phantom nicht immer böse«, fügte Meg abwesend hinzu, »manchmal ist es ganz nett. Schau, ich sollte das nicht sagen, es ist ein Geheimnis, aber es ist sehr großzügig zu Mama und mir gewesen. Der Geist hat mir eine Chance gegeben, verstehst du, hat dafür gesorgt, daß Monsieur Poligny mich bemerkt hat.«
Still und resigniert gab ich in meinem Versteck jeden Gedanken auf, Meg zu demütigen. Sie war nur ein Kind, nur ein dummes, schwatzhaftes, harmloses Kind, nicht ahnend, daß es ein streitsüchtiges, alterndes Ungeheuer ärgerte.
»Es ist nicht das erste Mal, daß er für Besetzungsänderungen gesorgt hat, verstehst du, Christine? Mama sagt, daß der Operngeist alles über Musik weiß und daß Monsieur Poligny sich vollkommen auf sein Urteil verläßt. Warum singst du nicht für ihn? Wo immer er ist, er wird dich hören, und vielleicht wird er auch für dich etwas bewirken.«
»Sei nicht albern, Meg!« Das Mädchen klang plötzlich sehr verlegen.
»Hast du Angst vor ihm?«
»Nein, natürlich nicht. Eigentlich glaube ich kein Wort von dem, was du mir über das Phantom erzählt hast!«
»Doch, das tust du! Du bist kreidebleich geworden!«
»Ich finde, wir sollten jetzt gehen.«
»Oh, Christine, du bist immer so ernst, nie machst du einen Spaß. Mama sagt, Faust wäre die Lieblingsaufführung des Phantoms. Du kannst doch die Rolle der Margarete, nicht?«
»Ja, aber ich habe nicht . . . «
»Ach, sei doch nicht so schrecklich feige! Sing für das Phantom, Christine. Es soll dich hören. Wer weiß, was dabei herauskommt.«
Das Mädchen klang zu Tode erschrocken, und plötzlich empfand ich eher Mitleid mit ihr. Wenn sie sich nicht gegen die Zudringlichkeit der kleinen Giry wehren konnte, dann hatte sie als Primadonna auf der Bühne keine Zukunft. Wahrscheinlich konnte sie ohnehin nicht singen. Aber ich konnte sie mir ja ruhig anhören, ich hatte im Augenblick ohnehin nichts Besseres zu tun, und wenn es zu schlimm war, konnte ich mir ja immer noch die Ohren zuhalten.
Nachsichtig lehnte ich mich in meinem Sessel zurück, und als Megs Finger ungeschickt nach den richtigen Tasten suchten, war ich auf eine leise Enttäuschung gefaßt.
Das Mädchen begann zu
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