Kay Susan
aber sie kam nicht wieder
herunter. Ich nahm an, daß sie ihn zu Bett gebracht hatte und bei
ihm saß; ich wagte nicht, nach oben zu gehen und nachzusehen. Ich
drückte mich tief in die hinterste Ecke des Sofas und verbrachte den
Rest der Nacht damit, eine neue Maske zu nähen und in den leeren
Kamin zu starren.
Kurz vor der Morgendämmerung kam Marie ins Zimmer, eine
Kerze in der Hand. Sie sah grau und erschöpft aus . . . und zornig. »Er verlangt nach dir«, sagte sie grimmig. »Gott weiß, warum,
aber er will dich sehen. Geh nach oben und tröste ihn.« Sie stand vor mir wie ein Racheengel, und ich wich zurück vor
ihrer beinahe gespenstischen Gestalt.
»Ich kann nicht«, flüsterte ich. »Ich kann nicht zu ihm gehen.« Unvermittelt beugte sie sich vor und gab mir einen klatschenden
Schlag auf die Wange.
»Steh auf!« herrschte sie mich an. »Steh auf, du nichtsnutziges
Balg! Dein ganzes Leben lang bist du verwöhnt worden . . . von deinen Eltern, von Charles, von mir . . . alle haben Madeleine verhätschelt, die süße, hübsche Madeleine. Nein, es genügt nicht, hübsch
zu sein, Madeleine. Das entbindet dich nicht von allen menschlichen Verpflichtungen. Es erlaubt dir nicht, den Geist eines Kindes
zu vergiften und seine Seele zu verkrüppeln. Hängen solltest du für
das, was du ihm angetan hast, seit er geboren wurde . . . Brennen
solltest du dafür!«
Sie schlug mich noch einmal, wandte sich dann ab, hoffnungslos schluchzend, und sank in den Sessel neben dem Kamin. So erschrocken ich auch war, ich mußte unwillkürlich an den Tag denken, als ich sie im Schlafsaal der Klosterschule auf dem Bett stehend angetroffen hatte, um einer großen Spinne auszuweichen, die
friedlich über den Boden zur Tür lief.
»Schaff sie weg, aber tu ihr nichts!« hatte sie mich mit bleichem
Gesicht angefleht. »Sie kann ja nichts dafür, daß sie so häßlich ist.« In meiner raschen, herzlosen Art hatte ich ein Buch nach der
Spinne geworfen und sie zerquetscht. Marie hatte danach tagelang
nicht mit mir gesprochen.
Dieses Bild ging mir nicht aus dem Sinn, während ich mich die
Treppe hochschleppte und eine Hand auf meine brennende Wange
drückte. Ich konnte diese zerdrückte Spinne nicht vergessen . . . Die Bodendielen knarrten unter meinen Füßen, und ich hörte
Erik weinen.
»Mama? Mama?«
»Pssst«, murmelte ich. »Ich bin’s, Erik. Pst! Ist ja schon gut.« Ich hörte ihn erleichtert aufseufzen, als ich das Zimmer betrat.
Eine kleine, bandagierte Hand streckte sich kurz nach mir aus und
fiel dann erschöpft auf die Bettdecke zurück.
»Es tut weh«, klagte er.
»Ich weiß.« Steif setzte ich mich auf den Bettrand und dachte,
wie klein er aussah in dem großen Bett, klein und hilflos. »Es tut
mir schrecklich leid. Schlaf jetzt wieder, dann geht es dir morgen
früh besser.«
Er klammerte sich ängstlich an der Decke fest.
»Ich will nicht schlafen«, stöhnte er. »Wenn ich schlafe, kommt es
zurück . . . das Gesicht! Das Gesicht kommt dann zu mir zurück!« Ich schloß die Augen und schluckte schwer an dem Kloß in meiner Kehle.
»Erik«, sagte ich hilflos. »Du mußte jetzt versuchen, das Gesicht
zu vergessen.«
»Ich kann es nicht vergessen. Es war da im Spiegel, und es hat
mir Angst gemacht. Hast du es auch gesehen, Mama? Ich will nicht,
daß es wiederkommt!« schluchzte er. »Ich will, daß du machst, daß
es für immer weggeht.«
Ich atmete tief ein und sah auf den kleinen Totenschädel nieder.
Die tiefliegenden Augen starrten verzweifelt in meine und suchten
den Trost, den sie von mir erwarteten. Und ich wußte, daß er trotz
seines frühreifen Genies noch zu jung war, um die Realität seiner
Bürde zu tragen.
»Die Maske wird das Gesicht verschwinden lassen«, sagte ich, so
sanft ich konnte. »Solange du sie trägst, wirst du das Gesicht nie
wieder sehen.«
»Ist die Maske wie ein Zauber?« fragte er mit plötzlichem Interesse.
»Ja.« Ich wandte den Kopf ab, um seine Augen nicht mehr zu
sehen. »Ich habe sie verzaubert, damit du in Sicherheit bist. Die
Maske ist dein Freund, Erik. Solange du sie trägst, kann dir kein
Spiegel mehr dieses Gesicht zeigen.«
Jetzt schwieg er, und als ich ihm die neue Maske hinhielt, akzeptierte er sie, ohne zu fragen, und zog sie mit seinen unbeholfenen,
verbundenen Fingern rasch über. Doch als ich aufstand, um zu gehen, reagierte er mit Panik und klammerte sich an mein Kleid. »Geh nicht weg! Laß mich nicht allein im Dunkeln!« »Du bist nicht im Dunkeln«, sagte ich sanft.
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