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Kay Susan

Titel: Kay Susan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Das Phantom
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»Schau, ich habe dir
die Kerze dagelassen.«
Doch als ich ihn ansah, wußte ich, daß fünfzig Kerzen nicht genügt hätten. Die Dunkelheit, vor der er sich fürchtete, war in seinem
eigenen Geist, und kein Licht auf der Welt war stark genug, um ihn
aus dieser Finsternis zu befreien.
Mit einem Seufzer setzte ich mich wieder auf den Bettrand und
begann leise zu singen. Noch ehe ich die erste Strophe beendet hatte, war er eingeschlafen. Die Verbände um seine Hände und Handgelenke wirkten im Kerzenlicht weiß und geisterhaft. Ich löste seine
Finger von meinem Rock.
Ich wußte, daß Marie recht hatte.
Geistig und körperlich hatte ich ihn für sein ganzes Leben verwundet.
6. Kapitel
    Für den schwierigen Umgang mit Eriks Gemüt und Intellekt verließ ich mich ganz auf Vater Mansart. Als er vorschlug, einige der Zeichnungen des Kindes an die Pariser Kunstakademie zu schicken, protestierte ich nicht. Ich wußte, daß er dort einen alten Bekannten hatte, der Architektur lehrte. Wenn Professor Guizot überzeugt werden könnte, sich für das Kind zu interessieren, dann war ich willens, jeden Rat und jede Hilfe anzunehmen, die er zu geben bereit wäre. Erik langweilte sich immer öfter, dann benahm er sich unerträglich schlecht und neigte zu gefährlichen Missetaten. Man konnte ihn unmöglich zur Schule schicken, und ich hatte kaum eine Chance, einen Lehrer zu engagieren, der seinen ungewöhnlichen Bedürfnissen entsprach. Professor Guizot schien meine einzige Hoffnung. Ich erwartete seinen Besuch mit wachsender Verzweiflung.
    Er beeilte sich nicht, nach Boscherville zu kommen. Als er schließlich eintraf, spürte ich, daß er überaus skeptisch war. Wie Vater Mansart war er schon in mittleren Jahren, behäbig und von etwas pompösem Gebaren. Trotz seiner ausgesuchten Höflichkeit war es offensichtlich, daß er meinte, man habe ihn umsonst aus Paris kommen lassen. Ich glaube, er war nur seinem alten Freund zuliebe erschienen und entschlossen, den Anlaß als kurzen Urlaub zu betrachten. Er nutzte die Gelegenheit, ausführlich die Möglichkeiten der Entenjagd im Nachbardorf Duclair zu besprechen, doch schließlich machte ich ohne weitere Rücksichten den Vorschlag, er möge sich nun mit Erik unterhalten.
    »Ach ja«, sagte er, und seine Stimme klang plötzlich unverkennbar kühl, »das Wunderkind. Bitte, bringen Sie ihn herein, Madame. Ich bin sicher, ich werde den jungen Künstler nicht allzu lange beanspruchen.«
    Als Erik das Zimmer betrat, sah ich die Überraschung des Professors über die Maske, aber er sagte nichts dazu. Er reichte dem Jungen die Hand und wartete geduldig, bis er sich auf einen Stuhl am Eßzimmertisch gesetzt hatte. Dann legte er ein Blatt Papier vor ihn hin und forderte ihn auf, zu benennen, was er darauf sah.
»Das ist ein Bogen«, sagte Erik höflich. »Ein Stichbogen.«
    »Richtig.« Ich hörte mildes Erstaunen in der Stimme des Professors. »Vielleicht zeigst du mir auch den Gewölbescheitel.«
Erik zeigte darauf.
»Strebepfeiler und Impost?«
Erik zeigte wieder das Gewünschte, und ich sah, daß der Professor die Stirn runzelte.
»Mitte, lichte Weite, Schenkel und Krone«, bellte er in kurzen Abständen. »Gewölbesteine . . . Bogenrücken.«
Eriks Finger bewegte sich sicher über das Blatt, und ich hörte ihn leise aufseufzen angesichts dieser langweiligen Übung.
Der Professor nahm ein Taschentuch und wischte sich damit über die fleckige Stirn. Er sah plötzlich erhitzt aus.
»Was ist die Kämpferlinie?« fragte er mit abrupter Aggression.
»Die Ebene, auf der ein Bogen aus seiner Stütze entspringt«, antwortete Erik geduldig.
Der Professor sank auf einen Stuhl und starrte das Kind an. »Zeichne mir zehn verschiedene Arten von Bögen und benenne sie«, befahl er.
Erik schaute enttäuscht zu mir herüber. Ich wußte, daß ihn die Einfachheit der Aufgabe kränkte, aber als ich ihn ermunternd ansah, nahm er seinen Bleistift zur Hand und begann, rasch zu zeichnen.
An dieser Stelle zog ich mich zurück und ließ die beiden allein im Zimmer. Drei Stunden später, als der Professor zu mir in den Salon kam, war er in Hemdsärmeln. Er sah zerzaust und erschöpft aus, ganz und gar nicht mehr der gewandte, ziemlich arrogante Herr, der kurz nach Mittag mit solchem Aplomb mein Haus betreten hatte.
»Madame«, sagte er feierlich. »ich muß Ihnen danken. Sie haben mir die bemerkenswerteste Erfahrung meiner ganzen akademischen Karriere beschert.«
Ich war klug genug zu schweigen, denn ich spürte, daß

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