Kay Susan
habe ihn mehrmals gerufen, aber du weißt ja, wie
er ist. Wenn er einen seiner Wutanfälle hat, ist nichts mit ihm anzufangen.«
Marie sah nach dem Päckchen, das sie auf die Anrichte gelegt
hatte.
»Weiß er, daß er Geburtstag hat?«
»Natürlich weiß er das!« erwiderte ich ärgerlich.
Ich nahm den Deckel von der Terrine und begann etwas heftig,
Suppe in Maries Teller zu löffeln; verzweifelt versuchte ich, die entschlossene Geschäftigkeit wiederzuerlangen, die mir die schrecklichen Gedanken ferngehalten hatte. Solange meine Hände sich bewegten, war mein Geist gnädig betäubt, und ich konnte der Tatsache ausweichen, daß ich als Mutter abermals versagte. Ich war
eine Mutter, die sich nicht überwinden konnte, ihr einziges Kind
zu küssen; nicht einmal an seinem Geburtstag; nicht einmal, als es
darum bat. Die tragische Würde seiner Bitte hatte mich derart aus
der Fassung gebracht, daß meine Hände noch immer zitterten. Ich
verschüttete Suppe auf die cremefarbene Spitze der Tischdecke und
wischte mit einem gedämpften Fluch über den Fleck.
Die Tür hinter mir öffnete sich. Ich stand wie angewachsen da
und sah, wie Maries Gesicht weiß wurde und sie instinktiv die Hand vor den Mund hielt. Das Entsetzen in ihren Augen währte nur eine Sekunde, ehe sie sich soweit in der Gewalt hatte, daß sie
ihre Lippen zu einem gequälten Lächeln zwingen konnte. »Guten Abend, Erik, mein Lieber. Wie hübsch du in diesem Anzug aussiehst. Komm, setz dich neben mich und iß. Danach packen
wir dann dein Geschenk aus.«
Als ich mich umdrehte und ihn in der offenen Tür stehen sah,
ohne seine Maske, schien mein Herz stillzustehen. Das hatte er mit
Absicht getan; er hatte es getan, um mich zu bestrafen und zu demütigen.
»Wie kannst du es wagen?« fuhr ich ihn an. »Wie kannst du es
wagen, du böses Kind!«
»Madeleine . . . « Marie erhob sich halb von ihrem Stuhl und
streckte nervös eine Hand nach mir aus. »Es macht wirklich nichts.« »Sei still!« versetzte ich. »Damit werde ich allein fertig. Erik! Geh
zurück in dein Zimmer und setze die Maske auf. Wenn du mich
jemals wieder so erschreckst, werde ich dich dafür auspeitschen.« Er erschauerte, und die grotesk mißgebildeten Lippen verzogen
sich, als wolle er weinen, aber noch immer stand er da, störrisch,
beide Hände trotzig zu Fäusten geballt.
»Ich mag die Maske nicht«, murmelte er. »Sie macht so heiß, und
sie tut mir weh. Sie macht wunde Stellen.«
Ich konnte die Stellen jetzt sehen. Unter den Augenhöhlen war
das Fleisch, das so dünn war wie Pergament, wundgerieben vom
ständigen Druck der Maske, die offensichtlich zu eng war. Weil ich
ihn nie genauer anschaute als unbedingt nötig, hatte ich nicht bemerkt, wie sehr er gewachsen war.
»Geh in dein Zimmer«, wiederholte ich unsicher. »Nach dem Essen bekommst du eine neue Maske, und du kommst nie wieder
herunter, ohne sie zu tragen. Hörst du, Erik? Nie wieder!« »Warum?« fragte er mürrisch. »Warum muß ich immer eine Maske tragen? Es trägt doch sonst niemand eine!«
Ein Nebel roter Wut stieg vor meinen Augen auf, und Zorn ließ
mich jede Selbstkontrolle vergessen. Ich packte ihn und schüttelte
ihn so wild, daß ich seine Zähne klappern hörte.
»Madeleine!« schluchzte Marie hilflos. »Madeleine, um Gottes
willen!«
»Er will wissen, warum!« schrie ich sie an. »Also soll er es erfahren. Bei Gott, er soll es erfahren!«
Ich grub die Nägel in den dünnen Stoff seines Hemdes und
schleifte ihn aus dem Zimmer, die Treppe hinauf und vor den einzigen Spiegel des Hauses.
»Schau dich an!!« schrie ich. »Schau dich im Spiegel an und sieh,
warum du eine Maske tragen mußt! Schau dich an!«
Er starrte mit so panischem Entsetzen in den Spiegel, daß meine
Wut erstarb. Und dann schrie er. Ehe ich ihn daran hindern konnte,
schlug er mit den geballten Fäusten wild gegen das Glas. Der Spiegel zerbrach. Scherben flogen in alle Richtungen und
schnitten in seine Finger und Handgelenke, so daß er aus einem
Dutzend Wunden blutete. Doch er schrie weiter und schlug mit
blutigen Händen um sich. Als ich sie festzuhalten versuchte, biß er
mich . . . er biß mich wie ein wildes Tier, das vor Angst von Sinnen
war.
Maries Stimme, eigenartig kalt und entschlossen, sagte, ich solle nach unten gehen und Verbandszeug holen. Als ich wiederkam,
hatte sie Erik von dem zerbrochenen Spiegel weggezogen und entfernte mit einer Pinzette Splitter aus seinen Fingern. Ich konnte
nicht zusehen . . .
Ich wartete im Wohnzimmer auf sie,
Weitere Kostenlose Bücher