Kay Susan
zuläßt.
Wenn ich sie jetzt nehmen würde, bewußtlos und ohne Widerstand, in diesem Bett, in dem ich geboren wurde, würde sie sich morgen nicht einmal daran erinnern.
Ich will sie!
Aber ich will nicht zum Tier herabsinken. Mörder, Dieb, skrupelloser Erpresser, verachtungswürdiger Drogensüchtiger . . . Doch dies ist ein Verbrechen, das ich nicht begehen kann. Ich kann nichts von ihr nehmen, das sie nicht aus freiem Willen gibt.
Also werde ich die Tür schließen und zu meiner Musik und meinem Morphium zurückkehren. In der süßen, vertrauten Nadel erwartet mich jetzt Frieden.
Morphium ist ein Laster, das mich vor einer größeren Sünde bewahrt.
7. Kapitel
Als Christine und ich uns heute morgen am Seeufer trennten, sagte ich ihr, wir könnten uns eine Woche lang nicht mehr treffen.
Ich versuchte mir einzureden, das habe rein praktische Gründe. Sie mußte sich um ihre Theaterverpflichtungen kümmern, und ich wußte, wenn ich nicht sehr vorsichtig wäre, würde mein Egoismus schließlich die Karriere ruinieren, die ich fördern wollte. Niemand hatte bis jetzt etwas gegen ihre Abwesenheit einzuwenden gehabt, denn im Augenblick wurde sie auf der Bühne nicht gebraucht – niemand außer Nadir, dem natürlich nichts entging und der jetzt, nach Bouquets Tod, dazu neigte, selbst die unschuldigsten Ereignisse mit größtem Argwohn zu betrachten. Der Tod ihres Vaters schien sie völlig allein zurückgelassen zu haben. Sie lebte mit einem Dienstmädchen, einem einfältigen Geschöpf, das offenbar zu wenig neugierig oder zu wenig mutig war, um das Verschwinden seiner Herrin zu melden. Ich hatte erkannt, daß außer dem jungen Chagny niemandem auf der Welt daran lag, was aus Christine wurde – keine Freunde, keine Verwandten. Sie hätte in den letzten paar Wochen ertrunken auf dem Grund der Seine liegen können, für ihre Kollegen an der Oper hätte das keinen Unterschied gemacht.
Aber am Samstag sollte wieder Faust aufgeführt werden, und ich wußte, ich durfte ihr nicht gestatten, meinetwegen auch nur eine einzige Probe oder Vorstellung zu versäumen. Sie gehörte zur Oberwelt, zu Tageslicht und Applaus. Ich mußte akzeptieren, daß es immer junge Männer geben würde, die sie bewunderten; ich mußte mich mit ihrer Abwesenheit abfinden, lernen, sie an langer Leine zu führen, obwohl alle meine Instinkte sie in der Umklammerung halten wollten.
Ich mußte einige der Mauern einreißen, die ich gebaut hatte, um mich vor Verletzungen zu schützen; ich mußte lernen, ihr zu vertrauen.
Das sagte ich ihr natürlich nicht. Ich sagte vielmehr, ich brauchte etwas Zeit für mich allein, um meine Oper zu vollenden. Ich erwartete, in ihren Augen Erleichterung wahrzunehmen, aber statt dessen schien sie verwirrt und verletzt. Sie sah aus wie ein Kind, das weggeschickt wird.
»Es tut mir sehr leid, wenn ich dich störe«, sagte sie, ohne mich dabei anzusehen.
Dann nahm sie den Schlüssel für das Tor in der Rue Scribe aus ihrer Tasche, streifte die Kapuze ihres Umhangs über den Kopf und eilte davon.
»Eine Woche?« sagte Raoul wachsam. »Du sollst eine ganze
Woche lang nicht wiederkommen? Warum?«
»Weil Erik zu tun hat.«
Ich saß da und schaute auf mein Kleid nieder. Geh jetzt
spielen, Christine, ich habe Wichtigeres zu tun. In all diesen Wochen hat Erik mich glauben lassen, ich sei der Mittelpunkt seines Universums, und nun verdrängt er mich so mühelos aus seinem Kopf, als klappe er ein Buch zu.
Langweile ich ihn? Ist er es leid, seine Gaben an ein welkendes Veilchen zu verschwenden? Wird er mich wirklich in einer Woche am See erwarten?
Raoul hatte seinen Zylinder und seine Handschuhe auf den Ankleidetisch gelegt.
»Nun«, begann er unsicher, »da es so aussieht, als würden wir diesmal nicht von den Launen deines verrückten Lehrers beherrscht, wirst du mir vielleicht die Ehre erweisen, heute abend mit mir zu soupieren.«
Ich starrte ärgerlich auf den leeren Spiegel.
»Mit dem größten Vergnügen«, sagte ich.
Wann werde ich lernen, meine Vorahnungen richtig zu deuten? Ich weiß jetzt genau, warum ich Christine weggeschickt habe.
Kaum war ich eine Stunde wieder zu Hause, da hatte ich einen
zweiten Anfall, nicht so schwer wie der erste, aber ausreichend, um mir klarzumachen, daß ich offenbar weniger Zeit habe, als ich dachte, daß es vielleicht besser ist, von nun an in der Frist von Monaten
zu denken und nicht von Jahren.
Ich bin so froh, daß sie nicht hier war.
Wenn ich eine Woche lang vorsichtig bin, braucht
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