Kay Susan
gestammelt hatte, war er so bleich wie sein weißes Dominokostüm. Ich war erleichtert, daß ich eine Privatloge im Parkett gewählt hatte, um mit ihm zu sprechen. »Der Mann ist offenbar wahnsinnig«, sagte er düster. »Ich denke, das ist eine Angelegenheit für die Polizei.«
»Nein!« keuchte ich entsetzt. »Raoul, wenn du irgend jemanden einweihst, werde ich alles leugnen. Warum kannst du nicht einfach versuchen zu verstehen?«
»Was zu verstehen? Daß du in den Händen eines skrupellosen Hypnotiseurs bist, der beschlossen hat, deine Unschuld für seine eigenen Zwecke auszunutzen? Ich sage dir, wenn ich wüßte, wo ich ihn finden könnte, dann würde ich ihn stellen und dieser elenden Farce ein für allemal ein Ende machen.«
Ich erschauerte und klammerte mich an seinen Ärmel.
»Du darfst nicht einmal daran denken, ihn herauszufordern, du hättest keine Chance.«
»Ach? Ist er gut im Duell? Ich dachte, er sei alt genug, um dein Vater zu sein, und könne bei jeder unangemessenen körperlichen Anstrengung tot umfallen?«
Unglücklich wandte ich mich ab.
»Ich habe dich nicht belogen, Raoul.«
»Aha, heute bin ich aber wirklich vom Glück begünstigt. Du bist in den Händen eines skrupellosen Verrückten, und mir wird die Ehre zuteil, die Wahrheit zu erfahren. Wo ist er, Christine? Ich will es wissen!«
Ich wich vor ihm zurück.
»Ich werde es dir nicht sagen, es ist zu gefährlich. Ich schwöre dir, wenn du dich ihm jemals näherst, Raoul, dann wirst du tot sein, ehe du mit deiner Waffe zielen kannst. Um Gottes willen, versprich mir, daß du nie versuchen wirst, allein den Weg zu ihm zu suchen!«
»Kommt nicht in Frage . . . «
»Versprich es mir!« schrie ich.
Besorgt über meine Lautstärke wich er zurück. Plötzlich sah er so jung und erschrocken aus, daß ich am liebsten geweint hätte. »Nun gut«, sagte er leise und angestrengt, »es ist nicht nötig, so zu schreien. Ich weiß, daß ich kein Recht habe, Fragen zu stellen. Ich habe überhaupt keine Rechte, nicht wahr?«
Für einen Augenblick starrten wir einander noch an wie zwei Kinder, die sich gezankt haben und nicht wissen, wie sie sich wieder versöhnen sollen. Dann setzte ich meine Maske wieder auf und floh in die überfüllten Räume.
Eine Stunde etwa wanderte ich die große Treppe hinauf und hinunter und suchte nach dem auffallenden roten Todeskostüm, das Erik trug.
Aber ich sah keine Spur von ihm, und nach einer Weile kehrte ich in meine Garderobe zurück und begann zu schreiben, während ich darauf wartete, daß er mich abholte und durch den Spiegel zurückbrachte.
Nun sind es zwei Stunden, seit ich sie in der Menge auf der großen Treppe verlassen habe. Ich bin zurückgekommen, um mein Schicksal zu erfahren. Noch immer bin ich als Roter Tod verkleidet, mit einem hohen Federhut und einem leuchtend roten Umhang, der hinter mir über die Erde schleift. Eine Maske, um das Kostüm zu vervollständigen, brauche ich allerdings nicht. Alle anderen sind maskiert, ich bin als ich selbst gekommen!
Die Stille im Gang hinter dem Spiegel ist beklemmend. Ich hätte meine schwarze Vergangenheit nicht beichten sollen. Selbst wenn sie heute nacht zu mir zurückkommt, werde ich nie mehr sicher sein, daß es nicht vielleicht aus Angst um das Leben des Jungen geschah. Zwei Wochen, um ihr Vertrauen zu gewinnen, und in zwei Minuten habe ich es wieder zerstört. Warum habe ich es ihr gesagt? Was bin ich für ein Narr!
Ich bin so müde. Alles strengt mich jetzt an, all die vielen hundert Treppen, die sich ins Unendliche erstrecken. Kaum zu glauben, daß ich sie noch vor sechs Monaten gar nicht bemerkt habe.
Diese ganze Angelegenheit ist wie ein Alptraumvertrag, an dessen rechtzeitiger Erledigung zum vorgesehenen Preis ich verzweifle. Nun ja, Giovanni hat mir vor langer Zeit gesagt, wenn man die Kosten grob unterschätzt habe, könne man nur eines tun – bereit sein, den Verlust zu tragen.
Doch statt diesen vernünftigen Rat zu befolgen, benehme ich mich weiterhin wie ein verrückter Spieler im Kasino, der bei jeder Runde rücksichtslos den Einsatz erhöht, ohne zu überlegen, ob er ihn am Ende auch bezahlen kann.
Das Geräusch, mit dem die Tür sich öffnet, läßt mich hoffnungsvoll aufschauen und dann in müder Enttäuschung zurücksinken, als eine Gestalt im weißen Domino leise eintritt.
Chagny! Er ist so bleich wie sein Kostüm, und wenn ich richtig sehe, hat er in den letzten vierzehn Tagen an Gewicht verloren.
Ich frage mich, ob sie sich gestritten haben.
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