Kay Susan
meinem absurden Bedürfnis nachgegeben, Christine in diesem Brautkleid zu sehen. Das Kleid wäre wie der Ring, den ich für sie gekauft hatte, nur ein weiteres Geheimnis gewesen, ein schöner Wasserfall aus weißem Satin, in schwachen, intimen Momenten traurig berührt und dann wieder eingeschlossen, außer Sicht – und keine Versuchung mehr.
Ich wage nicht daran zu denken, wie nahe ich daran war, die Beherrschung zu verlieren; wie erschreckend einfach es in diesem Augenblick gewesen wäre, sie zu vergewaltigen. Statt dessen habe ich sie mit der Musik vergewaltigt, und vielleicht war dieses Verbrechen fast so schlimm wie das, das ich gerade noch verhindern konnte. In jedem Fall habe ich ihr Vertrauen mißbraucht und eine seltene, kostbare Unschuld zerstört. Ich habe die zarte Atmosphäre beschmutzt, die in all diesen Wochen zwischen uns herrschte. Die Stille in ihrem Zimmer und die Riegel, die vorgeschoben blieben, waren stumme Zeugen für das Ausmaß ihres Schreckens und Widerwillens.
Allein ging ich über das nasse Trottoir, sicher eingehüllt in Umhang und Maske. Ich folgte blind einem Weg, den ich schon oft gegangen war, bis ich schließlich wieder vor dem Haus der Chagnys stand.
Ich war besessen von dem Jungen. Meine eifersüchtige Angst war so groß, daß ich im Schutz der Dunkelheit wiederholt hierher gekommen war, nur, um mich mit seinem Anblick zu quälen. Ich kannte seine abendlichen Gewohnheiten und die ungefähre Zeit seines Kommens und Gehens. Viele Male hatte ich ihn in und aus seiner Kutsche steigen sehen, manchmal mit Freunden, manchmal allein. Ich hatte sein freundliches Verhalten Dienstboten gegenüber beobachtet und sein müheloses Lachen gehört, ein offenherziger, vertrauensvoller Junge aus guter Familie, so selbstsicher in seiner Jugend und Schönheit.
Nun kletterte ich auf den Balkon seines Zimmers im ersten Stock, und dort, verborgen durch die teilweise zugezogenen Vorhänge, sah ich, wie er sich auskleidete und seinem wartenden Diener seine schlammverschmutzten Kleider zuwarf. Mir fiel auf, daß er heute keine Scherze machte. Der Junge war ernst und grimmig, und da er sich erst so spät zurückzog, mußte er seine betrunkenen Gefährten im Bois verlassen und sich auf die Suche nach einer anderen Kutsche gemacht haben.
Ich betrachtete ihn mit bitterem Neid. Ein Jüngling, hellblond und mit glatter Haut, gut proportioniert und kräftig gebaut. Wenn man kritisch sein wollte, konnte man vielleicht anmerken, er sei ein wenig zu klein gewachsen, doch er war größer als Christine; ich konnte mir also kaum einreden, daß das eine Rolle spielte.
Gegen meinen Willen sah ich vor mir, wie er ihr langsam dieses Brautkleid auszog. Ich sah ihre Scheu und Schüchternheit zuerst staunendem Forschen und dann schließlich der Ekstase weichen. Ich wußte, daß sie hinterher zusammen in der Dunkelheit liegen würden, friedlich, gesättigt, noch verschlungen, ihr schönes Haar über beide Körper gebreitet wie ein zarter Schleier.
Habe ich bei der grausamen Klarheit dieses unerträglichen Bildes aufgeschrien, oder war es eine unwillkürliche Bewegung der Qual, die ihn plötzlich auf mich aufmerksam machte? Ich kann es nicht sagen. Doch was immer es war, das mich verriet, es führte dazu, daß abrupt die Vorhänge aufgezogen wurden und ich in den Lauf eines Revolvers schaute.
Einen Augenblick lang starrten wir einander nur an, beide zu schockiert, um auf diese Konfrontation zu reagieren. Dann, als seine Hand am offenbar verklemmten Griff des bodentiefen Fensters zu rütteln begann, drehte ich mich um und sprang hinunter in den Garten.
Als ich davonging, hörte ich ihn oben auf den Balkon stürmen.
»Halt!« schrie er wütend. »Bleiben Sie stehen, wo Sie sind, Erik, oder ich schieße, darauf gebe ich Ihnen mein Wort!«
Ich hielt inne und drehte mich um. Er hatte das Licht im Rücken, und sein kaum bekleideter Körper gab ein prachtvolles Ziel ab. Ich war nicht bewaffnet, aber das konnte er nicht wissen. Gegen meinen Willen war ich beeindruckt vom Mut dieses ungestümen Jungen, der wütend genug war, um in der Dunkelheit einen erfahrenen Mörder zu stellen. Dieser Mut war vielleicht unangemessen oder sogar ein wenig verrückt, aber er war jedenfalls nicht zu verachten.
Und doch war Verachtung die einzige Abwehr, die mir geblieben war.
»Feuerwaffen gehören nicht in die Hände von Kindern«, sagte ich mit grimmigem Sarkasmus. »Ich rate Ihnen, das Ding wegzulegen, mein Junge, bevor Sie sich
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